Die spaltende K-Frage: Kindergeld-Betrug alarmiert Städte Von Georg Ismar, dpa

Es ist seit Jahren ein Reizthema. Neue Rekordzahlen liefern den
Oberbürgermeistern weitere Argumente. Die Zahl ausländischer
Kindergeldempfänger ist in den ersten sechs Monaten 2018 stark
angewachsen. Betrugsfälle häufen sich, der Handlungsdruck wächst.

Duisburg/Berlin (dpa) - Sören Link platzt langsam der Kragen, wenn er
die vermüllten Vorgärten in einigen Stadtvierteln Duisburgs
sieht. «Wir haben rund 19 000 Menschen aus Rumänien und Bulgarien in

Duisburg, Sinti und Roma. 2012 hatten wir erst 6000», sagt der
SPD-Oberbürgermeister der Ruhrgebietsstadt. Die Nachbarn fühlten
sich «nachhaltig gestört durch Müllberge, Lärm und Rattenbefall
».

Es ist ein heikles Thema. Link sagt, Pauschalisierungen helfen nicht
weiter, Wegsehen aber auch nicht. Zugleich attackiert er vor allem
eine Gruppe: der Zentralrat der Sinti und Roma wirft ihm Rassismus
vor. Das berge «die Gefahr von Gewalt gegen Sinti und Roma», warnt
der Vorsitzende Romani Rose. Es geht um das Reizthema Kindergeld für
ausländische EU-Bürger. Er sei ja ein großer Freund der europäische
n
Freizügigkeit, sagt Link. Aber die Idee, in einem anderen EU-Staat zu
arbeiten und Geld zu verdienen, werde ad Absurdum geführt, wenn im
Windschatten eine Migration stattfinde, um Kindergeld abzukassieren.

Link sagt, das Problem bringe die Bürger in Rage, die Regierung müsse
endlich auf EU-Ebene handeln. Auslöser der Debatte sind neue Zahlen
zum Kindergeldbezug. Im Juni 2018 wurde für 268 336 Kinder, die
außerhalb von Deutschland in der EU oder im europäischen
Wirtschaftsraum leben, Kindergeld gezahlt, wie ein Sprecher von
Finanzminister Olaf Scholz (SPD) sagt. Ein Empfängerkreis, der der
Einwohnerzahl Gelsenkirchens entspricht - und ein Plus von 10,4
Prozent im Vergleich zum Stand Ende 2017 (243 234 Empfänger). Die
meisten ausländischen Kindergeldbezieher sind demnach polnischer
Herkunft, gefolgt von Tschechien, Kroatien und Rumänien.

Das ist ein Rekord. Betrügereien, die aus einigen Städten gemeldet
werden, beziehen sich zum einen auf Kinder, die möglicherweise im
Ausland gar nicht existieren. Und zum anderen auf Fälle im Inland, wo
derzeit rund 2,7 Millionen Kinder ausländischer Herkunft Kindergeld
beziehen. Insgesamt knapp sieben Milliarden an Kindergeld wurden 2017
an ausländische Empfänger gezahlt. «Bei dem Großteil läuft alles

absolut korrekt», betont der Leiter der bei der Bundesagentur für
Arbeit (BA) angesiedelten Familienkasse, Karsten Bunk. Bei 100
Verdachtsprüfungen wurden aber zuletzt in Nordrhein-Westfalen in
immerhin gleich 40 Fällen fehlerhafte Angaben festgestellt. Die Summe
des unberechtigt bezogenen Kindergelds lag bei rund 400 000 Euro.

Eine bundesweite Zahl zu Missbrauchsfällen gibt es nicht, auf eine
entsprechende AfD-Anfrage antwortete die Bundesregierung im März:
«Die gewünschten Zahlen können nicht genannt werden, da eine
Statistik über Missbrauchsfälle beim Kindergeld nicht existiert.» 


Aber einige der Neu-Duisburger kommen laut Link nicht, weil sie die
Stadt so reizt, sondern für das deutsche Kindergeld. 194 Euro für die
ersten zwei, 200 Euro für das dritte Kind, für jedes weitere Kind 225
Euro im Monat. Nach EU-Angaben beträgt das Durchschnittsgehalt in
Rumänien 715 Euro brutto, das Kindergeld zwischen 18 und 43
Euro. Einen Kindergeldanspruch haben EU-Bürger grundsätzlich in dem
Mitgliedstaat, in dem sie arbeiten. Das Beantragen ist einfach. 

Man meldet sich in Deutschland mit einem Wohnsitz an und weist eine
Beschäftigung nach. Dann geht die Meldung an die Familienkasse, die
überprüft das Vorliegen von Kindern und zahlt das Geld aus. «Ob die
Kinder in Deutschland leben, ob sie in Rumänien oder Bulgarien leben,
ob sie überhaupt existieren, das ist dann noch mal eine ganz andere
Frage», sagt Link. Er spricht von oft gefälschten Geburtsurkunden
oder Schulbescheinigungen. «Wir müssen den kriminellen Sumpf der
Schlepper austrocknen, die Menschen in Rumänien und Bulgarien
anwerben und hierhin bringen in Wohnungen, in denen wir selbst alle
nicht leben wollen.»

Es sei zudem ganz oft so, dass der Vermieter auch der Arbeitgeber
oder Scheinarbeitgeber sei. «Die haben das als Geschäftsmodell
erkannt: sie vermieten zu horrenden Mieten Schrottimmobilien, die
eigentlich nicht mehr bewohnbar sind, und der Staat zahlt Kindergeld
und Sozialleistungen.» Wie viel Geld davon Banden dahinter
einkassieren, das ist ein Dunkelfeld. SPD-Chefin Andrea Nahles will
mit den Oberbürgermeistern betroffener Kommunen bei einem
«Kindergeld-Gipfel» am 27. September in Berlin Lösungen suchen.

Das Thema ist Wasser auf die Mühlen der AfD. Und die große Koalition

in Berlin hat das Problem, dass eine Reform auf EU-Ebene kompliziert
ist. Für Deutschland führte zuletzt Bundessozialminister Hubertus
Heil (SPD) die EU-Verhandlungen - die EU-Kommission argumentiert, wer
zum Beispiel in Deutschland Sozialversicherungsbeiträge zahle, müsse
auch die gleichen Leistungen erhalten - auch das gleiche Kindergeld.

Neben dem Vorgehen gegen Betrugsfälle will die Bundesregierung vor
allem die Kosten von mehreren hundert Millionen Euro im Jahr für
Kinder im EU-Ausland verringern. Durch Zahlungen, die sich an den
Lebenshaltungskosten im Land orientieren, wo das Kind lebt.
Österreichs Regierung von Kanzler Sebastian Kurz hat die sogenannte
Indexierung im nationalen Alleingang beschlossen, um die heimischen
Steuerzahler bei den Kindergeldkosten etwas zu entlasten.

Für die einen die Spitze des Eisberges, für die anderen eine
Ausnahme. «Vor allem der elektronische Datenaustausch innerhalb
Deutschlands und auch den europäischen Ländern muss verbessert
werden», sagt Familienkassen-Leiter Bunk. Fakt ist, mit Ausweitung
der EU-Freizügigkeit auf Osteuropa hat sich die Zahl von
Kindergeldbeziehern stark erhöht. Da sind zum Beispiel bestens
ausgebildete Pflegekräfte aus Polen, ohne die in vielen Pflegeheimen
nichts mehr laufen würde, die alleine hier leben, Steuern und
Sozialabgaben zahlen und Kindergeld bekommen für ihre Kinder.

160 080 polnische Kinder bekamen im Juni in Deutschland Kindergeld,
117 471 in Polen. Zudem bezogen rund 119 362 rumänische Kinder in
Deutschland Kindergeld und 18 855 in Rumänien. Im Vorjahr wurden 343
Millionen Euro auf Konten im Ausland überwiesen - was aber wenig
aussagt, auch deutsche Empfänger, die im Ausland arbeiten, können
Konten im Ausland haben. Zu den Beziehern im EU-Ausland gehören auch
rund 31 000 Kinder mit deutscher Staatsbürgerschaft. Die ganze
Kindergeld-Debatte zeigt - auch sie ist recht missbrauchsanfällig.

Der Fürther Oberbürgermeister Thomas Jung (SPD) sieht Probleme mit
Missbrauch in rund 20 Städten, vor allem dort, wo Mieten günstig
sind. Auch in Bremerhaven wurde schon Sozialbetrug in Millionenhöhe
bekannt. «Es kann nicht sein, dass Kindergeld von Zuwanderern als
Einkommensquelle genutzt wird», sagt Oberbürgermeister Melf Grantz.

In betroffenen Städten droht das Fundament eines versöhnlichen
Miteinanders wegzubrechen. «Ich gebe es ständig in Düsseldorf und
Berlin zu Protokoll und bitte um Abhilfe», sagt Link frustriert. Er
hofft, dass nun etwas in Berlin passiert. «Hier geht es auch um das
Vertrauen der Menschen vor Ort, die das Tag für Tag mitbekommen.»