Dringend gesucht: Vielerorts fehlen Lehrer Von Christine Cornelius, dpa

An vielen Schulen reicht es gerade noch so. Doch wird ein Lehrer
krank, bricht das fragile Konstrukt zusammen. Anderswo ist der
Lehrermangel schon so groß, dass Unterricht ausfällt. Der Frust
wächst auf allen Seiten.

Berlin (dpa) - Angesichts eines teils massiven Lehrermangels schlagen
Schüler, Eltern und Pädagogen Alarm. Sie beklagen schwere
Versäumnisse in der Bildungspolitik und befürchten Nachteile durch
Lücken im Unterrichtsstoff. Im neuen Schuljahr werde sich die bislang
schon dramatische Situation vielerorts noch verschlimmern, sagen
Experten. Lehrer fehlen demnach vor allem an Grundschulen,
Förderschulen und ehemaligen Hauptschulen. Folgen des Mangels:
Unterrichtsausfall, größere Klassen - und im schlimmsten Fall fehlen
sogar Noten auf Zeugnissen.

«Ich rechne mit einer Verschärfung vor allem in den neuen
Bundesländern und auch in den Stadtstaaten, insbesondere in Berlin»,
sagte der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter
Meidinger. «Aber auch in Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und
Nordrhein-Westfalen ist die Unterrichtsversorgung auf Kante genäht.»
Bei Krankheitsausfällen werde es auch dort große Versorgungsengpässe

geben. «Im Endeffekt sind die Kinder die Leidtragenden, weil sie
keinen guten und vollständigen Unterricht bekommen», sagte Meidinger.
Das frustriere auch die Lehrer, da sie ihr Ziel, die Schüler
bestmöglich zu fördern, nicht erfüllen könnten.

Tatsächlich seien die Zeiten vorbei, in denen sich die Schüler über
Unterrichtsausfall vor allem freuten, sagte der Generalsekretär der
Bundesschülerkonferenz (BSK), Hannes Leiteritz. Sie befürchteten
vielmehr Nachteile für die nähere Zukunft - zum Beispiel bei
Bewerbungen. «Weniger Unterricht heißt weniger Stoffvermittlung. Und
der Stoff, der nicht vermittelt wird, kann auch in späteren Jahren
nicht aufgeholt werden», kritisierte der Abiturient aus Schleiz in
Thüringen. «Es entstehen Lücken, die später nicht wieder geschlosse
n
werden können, weil immer neuer Stoff nachkommt.»

Zu wenige Lehrer - und immer mehr Schüler: Nach einer offiziellen
Prognose wird die Zahl der Schüler bis 2030 bundesweit um 278 000 auf
11,2 Millionen steigen. Das seien über zwei Prozent mehr als 2016,
hatte die Kultusministerkonferenz (KMK) im Mai mitgeteilt. Als Gründe
nannte sie gestiegene Geburtenzahlen und viele Zuwanderer.

Die Länder tun inzwischen einiges, um das Ruder herumzureißen: Bayern
will mit einem Ausbau des Studienangebots auf die steigenden
Schülerzahlen reagieren: Ab Oktober soll es dort unter anderem 700
neue Studienplätze fürs Grundschullehramt geben. Sachsen will mit
einer Geldprämie versuchen, den Lehrermangel auf dem Land
einzudämmen: Referendare sollen von Januar 2019 an bis zu 1000 Euro
Zulage bekommen, wenn sie ihren Anwärterdienst im ländlichen Raum
absolvieren. In Brandenburg können bald Lehrer nach der Pensionierung
weiter arbeiten, bei einem besonderen dienstlichen Interesse.

KMK-Chef Helmut Holter schlägt vor, Lehrer nicht mehr strikt getrennt
nach Schularten auszubilden. «Wenn wir erreichen wollen, dass wir den
Unterricht an den Schulen absichern wollen, müssen wir die
Durchlässigkeit zwischen den Schulen erhöhen», sagte der Thüringer

Bildungsminister (Linke). Die Lehrerausbildung dürfe nicht mehr etwa
nach Gymnasium, Grund- und Realschule erfolgen, sondern nach
Altersstufen der zu unterrichtenden Kinder. Dadurch könnten Lehrer
flexibeler an unterschiedlichen Schulen eingesetzt werden.

In Berlin hat der Lehrermangel besonders dramatische Züge angenommen:
Im Juni fehlten laut Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) in der
Hauptstadt noch 1250 Lehrer - so viele wie noch nie. Ein Projekt zum
Lückenstopfen heißt hier «Unterrichten statt Kellnern»: Studenten i
n
lehramtsbezogenen Masterstudiengängen werden Halbjahres- oder
Jahresverträge an Schulen angeboten.

Die Maßnahmen kommen aus Expertensicht zu spät. «Es wurden Prognosen

verschlafen und es wurde nicht rechtzeitig gegengesteuert», sagte
Meidinger vom Lehrerverband. «Die Politik, auch das
Bundesbildungsministerium, hätte die Hochschulen auffordern müssen,
die Lehrerausbildungskapazitäten nicht so stark abzubauen.» Die
Länder hätten nicht rechtzeitig auf den Geburtenanstieg reagiert. «Es

hätte viel früher eine massive Lehreranwerbung geben müssen.»

Auch aus Sicht des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) ist der
Lehrermangel zu einem großen Teil hausgemacht. «Wie kann es sein,
dass man in solch eine enorme Lücke hineinschlittert?», kritisierte
VBE-Chef Udo Beckmann. «Wenn die Politik nicht massiv nachsteuert und
umsteuert, dann sehe ich auf absehbare Zeit keine Entspannung.»

Linke-Chef Bernd Riexinger kritisierte «jahrzehntelange, schwere
Versäumnisse» in der Bildungspolitik und forderte die
Soforteinstellung von 10 000 Grundschullehrern sowie ein Anheben der
Besoldung angestellter Lehrer auf Beamtenniveau. Die FDP-Politikerin
Nicola Beer sprach sich für «ein Sofortprogramm für weltbeste
Bildung» aus. Dabei sei es wichtig, «dass der Lehrerberuf vor allem
auch im Grundschulbereich finanziell attraktiver wird. Für
Quereinsteiger muss es einfacher möglich sein, an Schulen
unterrichten zu können».

Die Eltern sind ebenfalls in Aufregung. «Aus unserer Sicht ist der
Lehrermangel zurzeit so schlimm, wie er noch nie war», sagte
Bundeselternrats-Chef Stephan Wassmuth. «Wir sind eine
Leistungsgesellschaft, das darf man nicht vergessen. Eltern machen
sich Sorgen, dass die Grundlagen fehlen.» Es könne nicht die Lösung
sein, dass Eltern den fehlenden Stoff mit ihren Kindern in der
Freizeit nachholten oder Nachhilfe finanzierten.

Auch mit Seiteneinsteigern versuchen Länder, Lücken zu stopfen. In
Nordrhein-Westfalen hatte 2017 laut Schulministerium jeder neunte neu
eingestellte Lehrer keine grundständige Ausbildung. Meidinger sieht
diesen Trend kritisch und spricht von einer «Notlösung». «Geschieht

das in großem Umfang, verschlechtert das die Unterrichtsqualität.»
Beckmann vom VBE gibt zu bedenken, Seiteneinsteiger hätten teils
überhaupt keine pädagogische Qualifikation. «Gerade in der
Grundschule brauchen wir aber bei der hohen Diversität der Schüler
gut ausgebildete Pädagogen.» Er fordert eine pädagogische
Vorqualifikation von mindestens einem halben Jahr.