Scharfe Kritik an großer Koalition nach 100 Tagen

Die ersten 100 Tage sind eine Art Schonfrist für eine neue Regierung.
Aber auch ein Anlass, um schon mal eine erste Bilanz zu ziehen. Die
fällt für die GroKo vernichtend aus.

Berlin (dpa) - Die große Koalition erntet nach 100 Tagen im Amt
scharfe Kritik von allen Seiten. Wirtschaft, Gewerkschaften
Opposition und Kommunen werfen CDU/CSU und SPD Untätigkeit, das
Setzen falscher Prioritäten und eine Selbstblockade durch den
Unionsstreit in der Asylpolitik vor. Industriepräsident Dieter Kempf
forderte die Bundesregierung zu mehr Teamgeist auf. DGB-Chef Reiner
Hoffmann warf ihr vor, bei zentralen Themen für die Bürger bisher
viel zu wenig unternommen zu haben. Die nach der Bundestagswahl im
vergangenen September nur unter Mühen zustande gekommene große
Koalition ist an diesem Donnerstag seit 100 Tagen im Amt.

Der Präsident der Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI),
Kempf, sagte der Deutschen Presse-Agentur in Berlin: «Mich besorgt,
dass in zentralen Fragen wie der Migrationspolitik immer wieder
Uneinigkeit zwischen den Koalitionären hervortritt. Deutschland
braucht jetzt Strategie- und Handlungsfähigkeit. Müsste diese
Mannschaft zur WM antreten, wäre ich nicht sicher, dass alle ihre
Aufgaben, Lauf- und Passwege kennen.» Die deutsche Industrie erwarte
von der Regierung, dass sie ein Stabilitätsanker der EU sei und
bleibe. «Das gilt sowohl im lodernden Handelskonflikt mit den USA,
aber auch im Hinblick auf die europäische Migrationspolitik und die
dringend notwendige Weiterentwicklung der Eurozone.»

Nach 100 Tagen sei die große Koalition noch keine Koalition für die
Wirtschaft, monierte Kempf. «Das muss sich ändern. Deutschland
genießt eine bemerkenswerte wirtschaftliche Prosperität mit einem
lang anhaltenden Aufschwung und enormem Steuermehraufkommen. Und im
Koalitionsvertrag stehen vor allem soziale Wohltaten an die älteren
Generationen. Das widerspricht meinen Erwartungen an
Gestaltungskraft. Wo bleiben die Interessen der jungen Generation?»

Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Hoffmann, sagte
der Deutschen Presse-Agentur, die Regierung müsse einen Dialog über
relevante Fragen anstoßen, die die Bürger wirklich bewegen. «Deren
Lebenswelt ist zum Teil eine andere als aus dem politischen Berlin zu
hören ist. Die Menschen machen die Erfahrung, dass es keinen
bezahlbaren Wohnraum gibt, die Verkehrsinfrastruktur grottig ist,
dass die Situation in unseren Schulen zum Teil katastrophal ist. Das
sind Themen, die in Angriff genommen werden müssen.» Bei der
Kommunikation der Regierung gebe es erheblichen Verbesserungsbedarf.

Zwar habe die Koalition aus Union und SPD in den ersten 100 Tagen
einiges auf den Weg gebracht wie die Parität bei der Finanzierung der
gesetzlichen Krankenversicherung, das Rückkehrrecht von Teilzeit auf
Vollzeit und die Einsetzung der Rentenkommission. «Das reicht aber
nicht», sagte Hoffmann.

Der Präsident des Deutschen Städtetags, Münsters Oberbürgermeister

Markus Lewe (CDU), kritisierte ebenfalls den Streit zwischen CDU und
CSU in der Flüchtlingspolitik und warnte: «Wir können uns keine
Konflikte leisten, die uns lähmen.» Er wünsche sich, dass die Union
im Asylstreit «schnellstmöglich» eine Einigung erziele, sagte Lewe
der dpa. «Denn wir haben Herausforderungen, die immens sind. Dazu
gehören gleichwertige Lebensverhältnisse. Dazu gehört die steigende
Bevölkerungszahl. Dazu gehört ein riesiger Investitionsstau.»

Es gebe erhebliche Herausforderungen in wachsenden Städten beim
bezahlbaren Wohnraum, sagte Lewe. «Unsere Verkehrsinfrastruktur muss
teilweise erheblich erneuert und ausgebaut werden. Und gleichzeitig
müssen wir auch noch erhebliche Anstrengungen vornehmen bei der
Digitalisierung.»

Die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel hofft auf ein baldiges Ende
der Bundesregierung. «Für Deutschland und die Deutschen wäre es das
Beste, wenn den ersten hundert Tagen dieser Regierung nicht noch
einmal weitere hundert GroKo-Tage folgen», sagte sie der Deutschen
Presse-Agentur. Das Einzige, was Union und SPD «zügig durchgezogen»
hätten, sei die Anhebung der Obergrenze für die staatliche
Parteienfinanzierung. Während die großen Probleme ungelöst blieben,
sei Merkels viertes Kabinett nach hundert Tagen schon mitten in der
Krise.

Zufrieden mit der Arbeit ihrer Partei äußerte sich dagegen die
SPD-Vorsitzende Andrea Nahles: «Seit 100 Tagen setzt die SPD den
Koalitionsvertrag Schritt für Schritt um. Denn für uns ist er Auftrag
und Richtschnur», sagte sie der «Welt».