100 Tage Merkel IV - Regieren am Rande des Abgrunds Von Jörg Blank, Georg Ismar und Marco Hadem, dpa

Es war die längste Regierungsbildung - jetzt droht plötzlich die
kürzeste Regierungszeit der Bundesrepublik. CDU, CSU, SPD kämpfen mit
eigenen Problemen und dem Schatten der AfD - 100 Tage nach dem Start
präsentiert sich ein fragiles Bündnis in zunehmend komplizierten
Zeiten.

Berlin/München (dpa) - Ein US-Präsident Donald Trump, der sich aus
der westlichen Wertegemeinschaft verabschiedet und dabei ist, einen
Handelskrieg anzuzetteln. Wachsender Nationalismus in Europa. Und zu
Hause schon wieder eine veritable Regierungskrise.

Nicht einmal 100 Tage nach der Vereidigung ihres vierten Kabinetts
ist Angela Merkel mit voller Wucht von ihrer Vergangenheit als
«Flüchtlingskanzlerin» eingeholt worden. Die Kanzlerin regiert erneut

am Abgrund, ihr politisches Schicksal steht auf der Kippe. In ihrer
wohl letzten Amtszeit könnte das zum Dauerzustand werden.

Rückblende: Der Start in ihre vierte Amtszeit beginnt für Merkel mit
einem Desaster der Unionsparteien bei der Bundestagswahl. Wochenlange
Sondierungen für eine Jamaika-Koalition mit Grünen und Liberalen
scheitern an der FDP. Auch bei den quälenden Verhandlungen mit der
SPD über eine Neuauflage der ungeliebten großen Koalition sieht es
lange so aus, als stehe Merkels politische Karriere vor dem Ende.

Doch gefährlicher als die vergleichsweise handzahme und viel mit sich
selbst beschäftigte SPD wird ihr gerade die kleine Schwesterpartei
CSU. Die Folgen von Merkels Entscheidung im Jahr 2015, in Ungarn
feststeckende Flüchtlinge nach Deutschland zu lassen, haben die
Kanzlerin noch mehr mit Horst Seehofer entzweit, dem Chef der
Schwesterpartei und ihrem Innenminister.

Bis heute glauben er und die Mehrheit der CSU-Führungsriege nicht,
dass Merkel verstanden hat und ihre Flüchtlingspolitik tatsächlich
verändern will. Aber sie ist natürlich auch stur: Einen Fehler sieht
sie in ihrer Entscheidung von damals nach wie vor nicht.

Merkel war bei der Regierungsbildung kaum etwas anderes übrig
geblieben, als Seehofer in ihr Kabinett einzubinden - weil die SPD
mehrere Schlüsselressorts bekam, griff er schließlich nach dem
Innenressort. Mittlerweile halten ihm etliche in der CDU vor, es sei
eingetreten, was man von Anfang an befürchtet habe: Dass er vor allem
das Schicksal seiner eigenen Partei und deren Verteidigung der
absoluten Mehrheit bei der Landtagswahl im Herbst im Auge hat.

Bis zum vergangenen Jahr galt Merkel als mächtigste Frau der Welt -
jetzt dürften sich die mächtigen Männer in Washington, Moskau, Peking

oder Ankara freuen, dass Seehofer sie geschwächt aussehen lässt. Die
ersten großen Reisen in ihrer vierten Amtszeit in die USA, nach
Russland, China und zum G7-Gipfel nach Kanada haben der Kanzlerin vor
Augen geführt, wie sehr und in welch rasender Geschwindigkeit sich
die gewohnten Machtkonstellationen ändern.

Nur eingebettet in ein einiges Europa könne Deutschland seine Stärke,
Wirtschaftskraft und damit eng verbunden auch seinen Wohlstand
erhalten - dieses Credo steht hinter den Bemühungen der Kanzlerin
auch für eine europäische Lösung des akuten Asylstreits.

Hakeleien mit der SPD treten angesichts des Machtkampfs zwischen
Merkel und Seehofer in den Hintergrund - die Sozialdemokraten
schlagen sich in der Europadebatte sogar auf ihre Seite.

In der Öffentlichkeit überdeckt der Unionsstreit aber auch, dass das
Regierungsbündnis mit der SPD tatsächlich auch konkret regiert. Zu
den beschlossenen oder in die Spur gesetzten Projekten zählen das
Millionen Menschen betreffende Recht auf Rückkehr von Teilzeit- in
Vollzeitjobs nach einer Auszeit, ein höheres Kindergeld ab Mitte 2019
oder die Rückkehr zur einer gleichberechtigten Finanzierung der
Krankenkassen durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer, was die Bürger
entlastet. Von Rentenreformen über ein Baukindergeld, die
Digitalisierung der Schulen, mehrere Milliarden mehr für Kitas,
Schulen und Unis bis zu Maßnahmen gegen den Pflegenotstand: Vieles
ist geplant, auch wenn große Strukturreformen bisher fehlen.

Die SPD steht gerade etwas am Spielfeldrand, registriert aber, dass
sich ruhiges Regieren statt Streiten vielleicht doch auszahlen mag.
Während die Umfragen für die Union runtergehen, kommt die SPD
zumindest wieder in Reichweite der 20 Prozent. Aber man zittert auch,
was da kommen mag. Bloß keine Neuwahl. Wenn, dann würde wohl
Vizekanzler Olaf Scholz als Kanzlerkandidat einspringen müssen. Mit
der Bilanz und Gesetzen zum Wohle der Bürger ist man zufrieden.

Gerade hat sich die SPD halbwegs gefangen, wurde die Wahlniederlage
auf 108 Seiten schonungslos aufgearbeitet - und dabei vor allem
Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel die Schuld gegeben. Er reagierte darauf
mit bissiger Ironie. Er könne ja im Testament verfügen, dass man ihn
nach seinem Ableben ausstopft und im Willy-Brandt-Haus ausstellt -
als ewigen Sündenbock. SPD-Chefin Andrea Nahles hat Mühe, die wegen
der GroKo gespaltene Partei zusammenzuhalten. Und eine personelle
Erneuerung hat bisher kaum stattgefunden. Wenn die Wahlen im Herbst
in Bayern und Hessen schlecht ausgehen, wird es auch hier sicher
ungemütlicher; aber die Angst vor Neuwahlen und einem Überrunden
durch die AfD ist groß - daher ist man an die Koalition gekettet, was
das Druckpotenzial gegenüber CDU und CSU einschränkt.

In Bayern fällt das Resümee nach den ersten 100 Tagen ernüchternd aus

- zumindest was die generelle Performance angeht. «Die Leute haben
gehofft, da startet eine neue Regierung mit einem neuen Aufbruch.
Jetzt stellen sie fest, dass ist der gleiche Haufen, nur müder und
älter», sagt ein hochrangiger CSU-Funktionär.

Insbesondere Seehofer erhält intern als Innenminister das Prädikat
«gibt sich alle Mühe». Für die vielen Probleme - etwa den
Bamf-Skandal - könne er nichts, die habe er nur geerbt. In der CSU
hatten und haben sie durchaus Hoffnungen in die große Koalition
gelegt. Von einem Doppelpass in der Sicherheits- und Asylpolitik
zwischen Berlin und München ist da gerne die Rede. Doch bislang habe
der erhoffte Transfer für mehr Bayern im Bund noch nicht umgesetzt
werden können, sind sich viele Parteimitglieder einig.

Genau dies ist aber in den Augen der Parteistrategen um
Ministerpräsident Markus Söder, Seehofer und Co. entscheidend. Denn
will die CSU das Dogma von Franz Josef Strauss zumindest
mittelfristig wieder herstellen und die rechts von ihr positionierte
AfD wieder klein machen, muss Berlin liefern. «Die AfD ist in Berlin
entstanden und kann auch nur dort bekämpft werden», heißt es in der
CSU. Der Erfolg ist bislang nicht gegeben.