Immer mehr künstliche Kniegelenke - zu schnell auf dem OP-Tisch? Von Yuriko Wahl-Immel, dpa

Immer mehr künstliche Kniegelenke werden eingesetzt - laut Studie
auch bei Jüngeren unter 60 Jahren. Medizinisch erklärbar sei der
Trend nicht - eher finanziell. Wird zu schnell operiert? Chirurgen
sagen: Der Patient wünscht es. Aus den Kliniken kommt Kritik.

Gütersloh (dpa) - In Deutschland werden einer Studie zufolge immer
mehr künstliche Kniegelenke eingesetzt - auch bei vergleichsweise
jungen Patienten unter 60 Jahren. Zwischen 2013 und 2016 nahm die
Zahl solcher Operationen um gut 18 Prozent auf knapp 169 000 Fälle
zu, wie die Bertelsmann-Stiftung am Dienstag in Gütersloh mitteilte.
«Erklärbar ist dieser Trend weder durch medizinische noch durch
demografische oder geografische Einflussfaktoren», hieß es. Unter den
Patienten, denen eine Kniegelenk-Prothese eingesetzt wurde, waren
2016 rund 33 000 Menschen jünger als 60 Jahre. Ein Zuwachs von 23
Prozent im Vergleich zu 2013 - und um 31 Prozent gemessen an 2009.

Vom Berufsverband der Deutschen Chirurgen (BDC) hieß es dazu,
maßgebend sei der Wunsch des Patienten, der zunehmend anspruchsvoll
sei und vom medizinisch-technologischen Fortschritt profitieren
wolle. Brigitte Mohn vom Bertelsmann-Stiftungsvorstand kritisierte,
vor allem der Blick auf die noch jüngeren Patienten werfe die Frage
auf, «ob die Operationen wirklich medizinisch indiziert sind». Der
Trend sei «besorgniserregend».

Die Zahlen hat die Fachredaktion Science Media Center (SMC) in Köln
aus Daten des Statistischen Bundesamts errechnet. Die Deutsche
Krankenhausgesellschaft (DKG) erklärte in einer Stellungnahme:
«Patienten mit Knieproblemen haben in der Regel einen langen
Leidensweg hinter sich, ehe operiert wird. Statistische Auswertungen
greifen hier zu kurz.»

Erstaunlich allerdings: Die Analyse fördert große Unterschiede je
nach Bundesland beim Kunstkniegelenk-Ersteinsatz zutage. Die meisten
OPs gab es 2016 in Bayern mit 260 Eingriffen je 100 000 Einwohner,
gefolgt von Thüringen (243), Hessen und Sachsen-Anhalt (217). Im
Mittelfeld liegen Baden-Württemberg (202), Niedersachsen und
Nordrhein-Westfalen (201). Die wenigsten künstlichen Kniegelenke
werden in Berlin (153) und Mecklenburg-Vorpommern (164) eingesetzt.
Die Wahrscheinlichkeit, eine solche Prothese zu erhalten, sei
in Bayern um 70 Prozent höher als in Berlin. Und auf Kreisebene
variieren die Zahlen noch einmal enorm.

Haben also die Berliner bessere Kniegelenke als die Thüringer? Hängt
die Gelenk-Fitness vom Wohnort ab? Die Unterschiede hätten damit zu
tun, dass die Zugänge zur Krankenhausversorgung je nach Region anders
ausfielen, erläuterte BDC-Vizepräsidentin Julia Seifert. Eine
«Verzerrung» bei den Studienzahlen sei möglich, da SMC nach Wohnort

gezählt habe, der OP-Ort könne aber ein ganz anderer sein.

Ihrem Verbandskollegen Jörg-Andreas Rüggeberg zufolge hängt es auch
von der Zahl der niedergelassenen Orthopäden in einer Region ab, wie
oft operiert wird. Und davon, ob diese die manchmal etwas
ungeduldigen Patienten von einer konservativen Therapie überzeugen
könnten, also etwa Physio- oder Ergotherapie und Gewichtsabnahme.
«Viele wollen lieber gleich ein neues Knie und keine langwierige
Behandlung.» Der Wunsch nach Wohlbefinden und hohem Service steige
allgemein.

Die Studien-Macher glauben dagegen: «Wenn Patienten sorgfältig
informiert werden, entscheiden sie sich seltener für eine Operation.»
Die Prothesen könnten segensreich sein, bereiteten aber oft auch
Beschwerden. Am häufigsten werden die Kunst-Gelenke eingesetzt, weil
die Knorpelschicht im natürlichen Gelenk durch Verschleiß schmerzhaft
zerstört ist - Arthrose also. Aber auch Fehlstellungen, Verletzungen,
Arthritis oder Tumorbehandlungen können Grund für eine OP sein. Mehr
als 1000 Kliniken deutschlandweit bieten das Einsetzen von
Kniegelenk-Prothesen an.

Besonders problematisch aus Sicht der Bertelsmann-Stiftung: Je jünger
die Patienten bei der Erst-OP sind, desto höher ist die
Wahrscheinlichkeit, dass die Prothese im Laufe ihres Lebens
ausgewechselt werden muss. Wer zwischen 50 und 60 Jahren ein
künstliches Kniegelenk erhalte, habe ein Risiko zwischen 15 und 35
Prozent, ein zweites Mal auf den OP-Tisch zu kommen. Solche
Wechseloperationen seien belastend, führten häufiger zu
Komplikationen und zu schlechteren Ergebnissen als der Erst-Eingriff.

BDC-Vizepräsident Rüggeberg rät, eine OP möglichst lange
hinauszuzögern und konservative Therapien auszuschöpfen. Aber: «Die

Anspruchshaltung der Bevölkerung ist eben eine andere geworden.» Die
Zunahme speziell bei den Jüngeren erklärte er so: Der technologische
Fortschritt trage dazu bei, dass die Prognose für eine
Langzeit-Haltbarkeit der Kunstgelenke besser sei. Und das Risiko
geringer. Chirurgin Seifert erläuterte: «Die Ergebnisse sind im
wesentlichen gut. Der Benefit für den Patienten ist sehr groß.»

Bertelsmann und SMC sehen hinter dem OP-Zuwachs auch finanzielle
Gründe, wie Dutzende Interviews mit Fachärzten, Krankenkassen- und
Klinikvertretern und Gesundheitsökonomen untermauert hätten: Die OPs
seien finanziell lukrativer geworden. Über eine zentrale
Fallkostenpauschale erhalten Kliniken für diese Eingriffe laut
SMC einen höheren Betrag: «2013 konnten Kliniken für diese OP rund

7200 Euro abrechnen und 2016 fast 7900 Euro», erklärte Meike
Hemschemeier vom SMC.

DKG-Hauptgeschäftsführer Georg Baum kritisierte die Untersuchung, die
den Anschein einer stationären Überversorgung erwecken wolle. «Die
pauschale Verdächtigung, die Krankenhäuser würden aus
nichtmedizinischen Gründen Patienten operieren, hat keine Grundlage.»
Entscheidend sei die Situation des Patienten. «Die Krankenhäuser
helfen Patienten, die Statistik hilft nicht.»

Die Studien-Autoren bemängeln, dass bei niedergelassenen Ärzte das
Budget für Therapieansätze wie Bewegungstraining und Schmerzmittel
oft nicht ausreiche - etwa, um eine längere Physiotherapie zum
Muskelaufbau zu verschreiben. Die teuren OPs würden von den Kassen
dagegen «anstandslos bezahlt». Viele niedergelassene Orthopäden käm
en
mit ihren Patienten in die Klinken und operierten dort. Je nach
Vertragsvereinbarung erhalte der Mediziner dann einen Teil und das
Krankenhaus den Rest aus der Fallpauschale, sagte Hemschemeier.

Chirurg Rüggeberg sieht manche Kliniken einem hohen Druck ausgesetzt,
da sie eine festgelegte Mindestmenge von OPs pro Jahr erreichen
müssten, um solche Eingriffe auch künftig weiter vornehmen zu dürfen.

Das solle auf den Prüfstand. Rüggeberg stellte zugleich klar: «Der
Arzt berät, der Patient entscheidet.» Kollegin Seifert unterstrich,
die Operationen «in dem Maße» anzubieten, sei richtig, wenn es der
erkrankte Patient wünsche.