Wissenschaftler: Traumatisierte Flüchtlinge brauchen Hilfe

Gewalt, Verlust und Lebensgefahr - wer als Flüchtling nach
Deutschland kommt, hat oft Furchtbares erlebt. Und das hat nicht nur
Folgen für den Betroffenen, warnen Experten.

Berlin/Halle (dpa) - Viele Flüchtlinge brauchen nach Einschätzung von
Wissenschaftlern dringend psychologische Betreuung. Traumatische
Erfahrungen wie Krieg, Verlust und Lebensgefahr führten häufig zu
psychischen und körperlichen Krankheiten, schreibt die Nationale
Akademie der Wissenschaften Leopoldina mit Sitz in Halle. Das habe
nicht nur für die Betroffenen selbst Folgen.

«Bleiben psychische Beeinträchtigungen der Flüchtlinge unerkannt und

unbehandelt, können sich mittel- und langfristig empfindliche
Veränderungen des sozialen Zusammenhalts der Gesellschaft
entwickeln», warnen die Wissenschaftler in einer am Dienstag
veröffentlichten Stellungnahme. «Flüchtlinge, die psychisch leiden,
sind oft nicht in der Lage, ihren Alltag zu bewältigen,
vertrauensvolle soziale Beziehungen einzugehen oder eine neue Sprache
zu erlernen.»

Das könne zu Problemen nicht nur bei der Integration führen, sagte
der Psychologe Frank Rösler, Sprecher einer Arbeitsgruppe zu diesem
Thema und Präsidiumsmitglied an der Leopoldina. «Der eine sackt in
eine Depression ab, der andere in die Gewalttätigkeit.» Belastungen
der Eltern wirkten sich auch noch auf die nächste Generation aus.

Die Experten empfehlen, dass Flüchtlinge nach ihrer Ankunft in
Deutschland standardmäßig Fragen zu ihrer psychischen Situation
beantworten sollen. Zudem sollten Hausärzte, Sozialarbeiter oder
Lehrer für den Umgang mit traumatisierten Menschen geschult werden.

Um den großen Bedarf an psychologischer Begleitung zu decken, sollten
sogenannte Peer-Berater eingesetzt werden. Dafür kämen zum Beispiel
Psychologie-Studenten mit Migrationshintergrund und den nötigen
Sprachkenntnissen in Frage, erläuterte Rösler.

Schwer traumatisierte Flüchtlinge bräuchten zwar eine Therapie,
erklärte Rösler. «Peer-Berater» könnten aber unterstützen oder
in
leichteren Fällen Begleitung anbieten, ihrerseits begleitet von
Experten. Schon der Versuch, die eigenen Erlebnisse zu sortieren,
könne hilfreich sein: «Das Problem ist ja oft, dass Betroffene ihre
Ängste und Belastungen nicht zuordnen können. Das Gehirn funkt dann
quer: Jemand sieht einen Uniformierten, hat auf einmal wahnsinnige
Angst und weiß nicht, woher das kommt.»

Auch Rösler kann nur mutmaßen, wie viele Flüchtlinge mit gravierenden

psychischen Problemen kämpfen. «Es gibt einen Schätzwert aus
Baden-Württemberg, wonach ein Viertel möglicherweise traumatisiert
ist», sagte er - aber das sei noch nicht belastbar. Nach Angaben des
Statistischen Bundesamtes vom November lebten Ende 2016 rund 1,6
Millionen schutzsuchende Menschen in Deutschland.

Die Leopoldina-Forscher zitieren eine Untersuchung, wonach mehr als
60 Prozent der erwachsenen und über 40 Prozent der jugendlichen
Flüchtlinge Gewalt erfahren haben - als Opfer oder Täter.

Es bleiben noch mehr Ungewissheiten. «Man muss auch klären: Lassen
die Leute sich darauf ein? Da gibt es ja auch kulturelle Schranken»,
erläuterte Rösler. Den Leopoldina-Experten zufolge werden
Depressionen je nach Kulturkreis verschieden erlebt. Psychotherapie
sei in den Heimatländern zudem weniger verbreitet als in Deutschland.

Die Autoren des Papiers hoffen nun auf offene Ohren in der Politik.
«Unsere Absicht ist zu zeigen: Leute, hier gibt es ein Problem, und
das hat eine gesamtgesellschaftliche Dimension», sagte Rösler.