Wohl größte Mordserie nach dem Krieg: Verhandelt wird im Festsaal Von Irena Güttel, dpa

Über Jahre soll ein Krankenpfleger mehr als 100 Patienten zu Tode
gespritzt haben. Beim Prozess wird großer Andrang herrschen. Das
Oldenburger Gericht zieht deshalb in ein Ausweichquartier. Dort, wo
andere feiern, wird es im Herbst um schreckliche Todesfälle gehen.

Oldenburg (dpa) - Wenn der verurteilte Patientenmörder Niels Högel
wieder vor Gericht steht, wird nebenan zuweilen fröhliche Kindermusik
erklingen. Der frühere Krankenpfleger ist wegen Mordes an 97
Patienten angeklagt. 120 Nebenkläger wollen in dem Prozess erfahren,
wie ihre Angehörigen ums Leben kamen. Am Oldenburger Landgericht ist
dafür nicht genug Platz. Deshalb hat das Gericht den Prozess um die
wohl größte Mordserie in der deutschen Nachkriegszeit in die
Weser-Ems-Hallen verlegt - genauer gesagt in die dortigen Festsäle.
Dort wo andere tagen und feiern, werden ab Ende Oktober erschreckende
Details und viel Leid offenbart.

Mehr als 100 Patienten soll Högel innerhalb von fünf Jahren an den
Kliniken Oldenburg und Delmenhorst in Niedersachsen umgebracht haben.
Der 41-Jährige sitzt bereits lebenslang im Gefängnis. Wegen des Todes
von sechs Patienten auf der Delmenhorster Intensivstation musste er
sich bereits vor Gericht verantworten. Dabei zeigte sich, dass der
Ex-Pfleger für deutlich mehr Taten verantwortlich sein muss. Diese
hat er inzwischen weitgehend gestanden.

24 Verhandlungstage hat das Landgericht bis Mai nächsten Jahres
angesetzt - das ist viel, steht aber in keinem Vergleich zum
Mammutprozess um das Loveparade-Unglück in Duisburg mit mehr als 100
Verhandlungstagen, 10 Angeklagten und 65 Nebenklägern. Aus
Platzgründen muss das Landgericht dort ebenfalls ausweichen: ins
Kongresszentrum Düsseldorf.

Bis die Festsäle in Oldenburg zum Gerichtssaal werden können, muss
die Kammer noch einiges klären. «Es gab eine Vorabbegehung. Dabei hat
man festgestellt, dass es vom Umfang passen könnte», sagt
Gerichtssprecherin Melanie Bitter. 700 Quadratmeter ist der Raum
groß. Mit einer Wand lässt er sich teilen. Versicherungen und Banken
veranstalten dort nach Angaben des Pächters OVS ihre Tagungen,
festliche Bankette und Bälle werden dort gefeiert. Für den Prozess
wird der Raum extra umgebaut. Zu den Kosten, die am Ende der
Steuerzahler trägt, kann Bitter noch nichts sagen. Unklar ist auch
noch, ob die gesamte Fläche oder nur ein Teil der Festsäle gebraucht
wird.

Heimtierausstellung, Kunsthandwerkermarkt, Reise- und Freizeitmesse,
Konzerte - in der benachbarten Kongresshalle ist während des
Prozesses viel los. Doch nur zwei Veranstaltungen sind zeitgleich mit
Verhandlungstagen: die Kindermusicals «Die Schöne und das Biest» und

«Feuerwehrmann Sam», die nachmittags beginnen. «Ich gehe davon aus,
dass vom Aufbau und den Tonproben nichts zu hören sein wird», sagt
der Sprecher der Weser-Ems-Hallen, Kim Gütebier. Über einen eigenen
Eingang werden Prozessbeteiligte und Zuschauer die Festsäle betreten
und deshalb nicht in den Trubel nebenan geraten.

Ob die Nebenkläger einen eigenen Raum bekommen werden, ist noch
offen. So war es im Prozess um das Gletscherbahnunglück im
österreichischen Kaprun, wo die Hinterbliebenen das Geschehen
abgeschirmt von der Öffentlichkeit auf einer Leinwand verfolgen
konnten.

Auch das Oldenburger Verfahren wird für die Angehörigen schmerzhaft -
vor allem, wenn sie dem mutmaßlichen Mörder der von ihnen geliebten
Menschen zum ersten Mal gegenübersitzen. «Es wird ein unbeschreiblich
belastender, aber auch befreiender Moment», sagt Rechtsanwältin Gaby
Lübben, die fast 100 Nebenkläger vertritt.

Viele Familien sind in den vergangenen dreieinhalb Jahren durch die
Hölle gegangen. Über Monate ließ die Polizei 130 Gräber von
ehemaligen Patienten öffnen und die Leichen auf Rückstände von
Medikamenten untersuchen, die Högel seinen Opfern gespritzt hatte. Er
behandelte die Menschen, um sie anschließend wiederbeleben zu können.
Das Motiv: Langeweile, außerdem wollte Högel vor Kollegen mit seinem
Können glänzen, wie er später vor Gericht aussagte. In vielen Fälle
n
gelang es ihm nicht, die Patienten wieder zurück ins Leben zu holen.

Die toxikologischen Gutachten, Patientenunterlagen und anderen Akten
umfassen 13 Umzugskartons. Allein die Anklageschrift kommt auf fast
200 Seiten. Nicht alles davon müssen sich die Prozessbeteiligten zum
Auftakt anhören. «Verlesen wird nur der konkrete Anklagesatz», sagt
Oberstaatsanwalt Martin Koziolek. Doch auch das kann länger dauern:
Jede der 97 Taten und die konkreten Vorwürfe wird die
Staatsanwaltschaft erwähnen.

Um die Dokumentenflut im Prozess in Grenzen zu halten, soll nicht
alles im Gericht zu Protokoll gegeben werden. «Es soll die
Möglichkeit des Selbstleseverfahrens genutzt werden, um die
Prozessdauer zu verkürzen», sagt Bitter. Ob die Richter im Mai 2019
tatsächlich ein Urteil fällen können oder noch mehr Termine nötig
sind, vermag niemand zu sagen. «Ein Strafverfahren ist ein
dynamischer Vorgang. Man weiß nicht, wer welche Anträge stellt»,
meint Koziolek.

Am Strafmaß für den Patientenmörder Niels Högel wird der Prozess
nichts ändern. In Deutschland kann man nur einmal lebenslang
erhalten. Also wofür der ganze Aufwand? «Es ist wichtig, dass amtlich
festgestellt wird, was Niels Högel getan hat», sagt Koziolek. Damit
die Familien der Opfer endlich abschließen können.