«Unter Verlust von Nerven, Haaren und Zähnen» - Von Musikern am Limit Von Larissa Schwedes, dpa

Sie verdienen ihr Geld mit dem, was sie lieben, und werden dafür von
anderen geliebt. Berufsmusiker gelten als Glückspilze unter den
Arbeitenden. Doch der Traumjob hat auch Schattenseiten.

Stuttgart (dpa) - «So eine Platte kannst du einmal im Leben machen.
Aber nicht zweimal.» Als ihr Mann und Band-Kollege diese Worte zu ihr
sagte, wusste Judith Holofernes, dass es Zeit war aufzuhören. Das
Album «Bring mich nach Hause» der Band Wir sind Helden ist düster.
Seine Texte sind voller Heimweh, Sehnsucht nach Verschwinden und
Schlägen in den Nacken. Sie erzählen von einer dunklen Zeit im Leben
von Judith Holofernes - einer Zeit, über die sie sechs Jahre nach dem
Ende der Band sehr offen und ehrlich redet.

«Ich stand mit mindestens einem Fuß im Burn-out», sagte die
42-Jährige am Dienstag im Theaterhaus Stuttgart bei einem Talk-Abend
zum Thema Stress. «Ich habe mich ganz, ganz schmal gemacht, um weiter
zu funktionieren.» Ihr plötzlicher Erfolg, die unregelmäßigen
Arbeitszeiten und der Zwang, viele Pflichten zu erledigen, die gar
nichts mit Musik zu tun haben, machten Holofernes kaputt. Fünf Jahre
lang waren die Musikerin und ihr Mann sogar mit ihren zwei kleinen
Kindern auf Tour - «unter Verlust von Nerven, Haaren und Zähnen».
Nach zwölf Jahren als Band entschied das Paar mit seinen
Band-Kollegen im Jahr 2012, auf unbestimmte Zeit zu pausieren.

«Die Anforderungen an uns werden immer größer», sagte Liedermacher

Heinz Rudolf Kunze, der sich in Stuttgart mit Holofernes und dem
Stressforscher Martin Bohus vom Mannheimer Zentralinstitut für
Seelische Gesundheit austauschte. «Es wird von uns erwartet, mit viel
kleineren Budgets eine Leistung zu erbringen, die mindestens genauso
groß ist wie früher», sagte Kunze. Außerdem sei man als Künstler

ständig im Standby-Modus: «Jederzeit kann ein Impuls kommen, den man
verarbeiten muss.»

Bohus beschreibt Stress als Phänomen unserer beschleunigten Ära. «Was

wir heute in einer Stunde schaffen, ist ungefähr doppelt so viel wie
vor 20 Jahren», sagte der Forscher. Das sei nicht ohne zusätzliche
Belastung möglich. Außerdem sei Stress eine Art Statussymbol
geworden. Nur wer ihn hat, gehört dazu. Laut Bohus besitzt jeder eine
natürliche Stressresistenz - diese könne jedoch sehr unterschiedlich
ausgeprägt sein.

«Ich kenne Kollegen, die fünf Minuten vor ihrem Auftritt noch
seelenruhig stricken. Es gibt aber auch Kollegen, die zwei Stunden
vorher grün und wie ein Embryo gekrümmt in der Ecke liegen», erzähl
t
Kunze. «Ich würde sagen, ich befinde mich im gesunden Mittelfeld.»
Doch das war nicht immer so: Auch Kunze hatte in den 90er Jahren mit
Auswirkungen des Stress' und sogar mit Panikattacken zu kämpfen. Erst
im dritten Anlauf half eine Gesprächstherapie ihm, seine Krise zu
bewältigen.

Die Musiker sind mit ihren Problemen nicht allein: Nach Angaben der
AOK Baden-Württemberg, die zu der Talk-Veranstaltung im Theaterhaus
eingeladen hatte, werden jedes Jahr rund die Hälfte der 4,3 Millionen
dort Versicherten wegen Krankheiten behandelt, die durch Stress
verursacht werden können - dazu zählen Angststörungen und
Depressionen, aber auch Rückenleiden, Kopfschmerzen oder Tinnitus.

Holofernes, die musikalisch mittlerweile solo unterwegs ist,
gestaltet ihr Leben heute viel bewusster. «Ich gründe eine
Müßig-Gang», sang die Musikerin im Theaterhaus ins Mikrofon. In
vielen ihrer Texte verarbeitet sie ihren Lebenswandel. Auch bei Kunze
ist die Work-Life-Balance mittlerweile ausgeglichener: «Ich habe noch
nie von einem Nine-to-five-Job geträumt. Ich mache Nine-to-two und
danach schaue ich Küchenschlacht. Was ich zwischen neun und zwei Uhr
nicht schaffe, schaffe ich danach auch nicht mehr.»