Globalisierte gute Tat: Dateien für Blutkrebspatienten wachsen Von Ulrike von Leszczynski und Carlos Dorat, dpa

Die Diagnose Leukämie ist oft niederschmetternd. Jeder zehnte Patient
in Deutschland findet keinen genetisch passenden Stammzell- oder
Knochenmarkspender. Um die Trefferchancen zu verbessern, wachsen die
weltweiten Datenbanken. Die jüngste «Filiale» startet nun in Chile.

Berlin/Santiago (dpa) - Lebensretterin. Das Wort kommt Tatjana Tröger
gewaltig vor. «Es war ja nicht viel anders als Blutspenden», sagt
sie. «Aber es ist wirklich ein sehr schönes Gefühl, ein Leben
gerettet zu haben.» Tatjana Tröger aus der Nähe von Stuttgart war
Anfang 20, als sie eine Werbung für die Deutsche
Knochenmarkspenderdatei (DKMS) sah. Nun ist die Bürokauffrau 26. Im
Gepäck hat sie ein Trikot vom VfB Stuttgart und Gummibärchen. Es sind
Geschenke für den fünfjährigen Juan Carreño, der in Chile an Leuk
ämie
erkrankte. Tatjana Tröger hat vor drei Jahren Stammzellen für ihn
gespendet, es war ein genetischer Zufallstreffer. Heute ist Juan
gesund - und beide sind ein positives Beispiel für Globalisierung:
beim Kampf gegen Blutkrebs.

Chile ist seit dieser Woche offiziell das jüngste Mitglied der
weltweiten Gemeinschaft von Staaten mit Registern für
Blutkrebspatienten. Die DKMS mit Sitz in Tübingen organisiert den
Aufbau der Datei in dem südamerikanischen Land. Juan hatte vor drei
Jahren Glück. Bereits damals gab es Kooperationen zwischen
chilenischen Medizinern und der DKMS. Was sachlich klingt, hat eine
hochemotionale Ebene. Wenn Spender und Empfänger möchten, können sie

sich nach einer erfolgreichen Übertragung der Zellen kennenlernen.

Zum offiziellen Start der Datei in Chile ist Tatjana Tröger in dieser
Woche dorthin gereist, zusammen mit ihrem Vater. «Ich wusste am
Anfang nur, dass die Spenderin eine junge Frau aus Deutschland ist.
Ich schulde ihr ein Stück meines Lebens», sagt Juans Mutter Magdalena
Herrera Prieto in Santiago di Chile. Sie schließt Tatjana Tröger
spontan in die Arme. Vorher kannten sich die Frauen nur über ein
soziales Netzwerk. «Jetzt weinen sie gleich», kommentiert der kleine
Juan die Szene. Nach der ersten Begegnung am Mittwoch verbringen die
beiden Familien in Chile bis Sonntag viel Zeit miteinander. Juan hält
sie auf Trab. «Er ist voll des Lebens», sagt seine Mutter.

Welche Dynamik eine Spenderdatei entwickeln kann, zeigt das Beispiel
Polen. Hier ging die DKMS 2008 an den Start - heute gibt es 1,2
Millionen mögliche Spender. Das System trage sich nach einem Anschub
in Höhe von 16 Millionen Euro inzwischen selbst, sagt ein Sprecher.
Die Finanzierung funktioniert wie ein Kreislauf: Spender zu sein ist
ein «Ehrenamt». Geld zahlen in der Regel die Krankenkassen von
Blutkrebspatienten, dazu kommen Geldspenden. Um Gewinn geht es nicht.
Mit den Einnahmen - 2016 waren das bei der DKMS mehr als 100
Millionen Euro - werden zum Beispiel neue Dateien aufgebaut und
beworben.

Die DKMS, 1991 in Deutschland gegründet, ist heute ein Global Player.
Ihr Engagement in Chile ist die vierte direkte Auslandsverbindung -
neben den USA, Großbritannien und Polen. In Zahlen heißt das nach
Angaben der Organisation: Rund ein Viertel aller weltweit
registrierten potenziellen Stammzellspender sind bei der DKMS
gelistet. Damit ermögliche sie - weltweit mit anderen Organisationen
vernetzt - rund 40 Prozent der Stammzellspenden rund um den Globus.

«Die globale Vision der DKMS ist, jedem Menschen, der auf eine
Stammzellspende angewiesen ist, eine zweite Lebenschance zu geben»,
sagt Hauptgeschäftsführer Henning Wrogemann. Heute seien das im
Durchschnitt an jedem Tag 20 Versuche.

Deutschland ist ein Musterland, wenn es um die Registrierung geht:
Mehr als 7,8 Millionen Menschen sind hier nach der Statistik des
zentralen Knochenmarkspenderregister registriert. Fast 7000 von ihnen
wurden im vergangenen Jahr Blutstammzellen entnommen. Rund 5000
dieser Spenden gingen ins Ausland. Aber längst nicht jede Nation hat
ein eigenes Register für den weltweiten Austausch. Besonders
schwierig ist der Aufbau in Entwicklungs- und Schwellenländern. In
ganz Afrika gibt es nach DKMS-Angaben nur zwei Dateien - in Südafrika
und in Nigeria.

Doch auch in Deutschland ist der Kampf gegen Blutkrebs eine große
Aufgabe: Nach Angaben des DKMS erhält alle 15 Minuten ein Mensch
diese Diagnose, viele Patienten sind Kinder und Jugendliche. Doch
jeder zehnte Kranke findet noch immer keinen Spender. Fast 8000
Menschen sterben in Deutschland jedes Jahr an Leukämien, weil die
normale Blutbildung durch die Vermehrung von entarteten weißen
Blutzellen gestört ist. Ein prominentes Opfer war 2016 der ehemalige
Außenminister Guido Westerwelle.

Durch die Globalisierung der Register können auch immer mehr
Migranten in Deutschland vom Kampf gegen Blutkrebs profitieren. Schon
jetzt sucht die DKMS an ihrem neuen Standort in Südamerika nach
Spendern, die zu Patienten mit chilenischen Wurzeln in Deutschland
passen könnten. Denn die Chance, in der eigenen Herkunftsregion
fündig zu werden, ist wegen der genetischen Komponente weitaus größer

als ein Zufallstreffer.

Wahrscheinlich ist deshalb auch der Austausch zwischen Spendern aus
Deutschland und Empfängern in den USA so groß - seit 1991 gingen rund
13 000 Spenden der DKMS dorthin. Grund könnten die großen
Auswanderungswellen im 19. und 20. Jahrhundert sein. Innerhalb
Europas gehen die meisten Spenden aus Deutschland nach Frankreich,
Italien und Großbritannien.

Die weltweit vernetzten Spenderdateien können so auch eine kleine
Antwort auf Gesundheitsprobleme in multiethnischen Gesellschaften
sein. Tatjana Tröger, die keine chilenischen Wurzeln hat, freut diese
Entwicklung. Eine Erinnerung an ihre Spende trägt sie nun auch immer
bei sich. Auf ihrem linken Unterarm hat sie sich den Namen «Juanpi»
tätowieren lassen - das ist der Kosename des chilenischen Jungen, der
nun ihr Blutsbruder ist - und ihr genetischer Zwilling.