Richterin über Ex-Turnarzt Nassar: «Er wird niemals frei sein» Von Frank Thomas und Tatjana Rodriguez, dpa

Die Auftritte früherer US-Turnerinnen in einem Missbrauchsprozess
rütteln die Öffentlichkeit auf. Vor dem Gericht in Michigan schildern
sie, wie sie der kriminelle Ex-Teamarzt Nassar zu sexuellen
Handlungen nötigte. Dem Mediziner droht eine Rekordstrafe.

Lansing (dpa) - Ex-Turnerin Kyle Stephens brach in Weinkrämpfe aus,
Richterin Rosemarie Aquilina forderte harte Konsequenzen. Am zweiten
Tag des Missbrauchsprozesses gegen den kriminellen ehemaligen Arzt
des US-Turnverbandes, Larry Nassar, rückte eine Rekordstrafe in
ungewöhnlicher Höhe immer näher. «Der nächste Richter, dem er sic
h
stellen muss, wird Gott sein», sagte Aquilina am Mittwoch (Ortszeit),
dem US-Sender NBC News zufolge. «Er wird niemals mehr frei sein.»

Das Strafmaß für Nassar, der in dunkelblauer Gefängniskleidung im
Gerichtssaal von Lansing im US-Bundesstaat Michigan erschien und
immer wieder das Gesicht hinter seinen Händen vergrub, soll am
Freitag verkündet werden. Der 54-Jährige hatte im November zugegeben,
sieben minderjährige Turnerinnen sexuell belästigt und seine Position
als Vertrauensarzt beim Verband ausgenutzt zu haben. Fast 140
Turnerinnen haben Klagen gegen ihn eingereicht, etwa 90 von ihnen
kommen seit Dienstag in dem Prozess zu Wort.

Auch mehrere prominente US-Turnerinnen haben gegen Nassar ausgesagt,
unter ihnen auch die viermalige Rio-Olympiasiegerin Simone Biles.
Eindrucksvoll trat vor allem Nassar-Opfer Kyle Stephans auf und
nannte den Ex-Mediziner einen «abscheulichen Lügner». Nassar habe
seine sexuellen Neigungen ausgelebt und mit «medizinischen
Behandlungen» gerechtfertigt, die der Entspannung der
Becken-Muskulatur dienen sollten.

«Ich fühlte Scham, Ekel und auch Selbsthass, hatte später sogar
Depressionen und Essstörungen», berichtete Stephans. «Ich war besorgt

über die Aufmerksamkeit, die ich mit meinen Aussagen erregen könnte
und bat um völlige Anonymität», erklärte die junge Frau und
präsentierte vor Gericht zwei Bilder aus ihrer Schulzeit, während der
sie von Nassar missbraucht wurde. «Heute sage ich mir, dass ich mich
für nichts schämen muss.»

Im Antrag der Staatsanwaltschaft wird eine Rekordstrafe von 45 bis
125 Jahren für Nassar gefordert. Da dieser in einem anderen Prozess
wegen Besitzes von Kinderpornografie im Dezember bereits zu 60 Jahren
Haft verurteilt worden ist, wird die Strafe möglicherweise auch
lebenslang ausfallen.

Trainer Thomas Brennan, der mehr als 100 Mädchen zu Nassar zur
medizinischen Behandlung geschickt hatte, war am Mittwoch ebenfalls
im Gerichtssaal. Während Turnerin Gwen Anderson ihre mit Nassar
erlittenen Qualen schilderte, forderte Brennan laut NBC News den
früheren Teamarzt auf, den «Opfern in die Augen zu schauen». Nassar
hatte zuvor oft den Kopf geneigt, zur Seite geschaut oder die Augen
geschlossen, während die Betroffenen sprachen. «Geh zur Hölle!»,
forderte Brennan anschließend.