Baggern an der Basis Von Christiane Jacke, dpa

Martin Schulz ist auf Überzeugungs-Mission. Bis zum Parteitag in Bonn
muss der SPD-Chef eine Mehrheit für Koalitionsverhandlungen mit der
Union sichern. Das gestaltet sich nicht einfach. Aber nicht nur er
ist in Nöten. Für die Genossen geht es um viel, wenn nicht um alles.

Berlin (dpa) - Martin Schulz müht sich sehr. 30 Minuten lang arbeitet
er im Eiltempo unbequeme Fragen ab. Was ist von den großen Zusagen im
Wahlkampf übrig geblieben? Warum sollen die Sondierungsergebnisse ein
Erfolg sein? Was bitte ist heute anders als am Wahlabend? Also viele
verschiedene Variationen der Frage: Was soll das?

Was ihm die Facebook-Nutzer da am Dienstag beim Live-Video-Chat im
Netz hinwerfen, ist nicht besonders angenehm. Aber der SPD-Chef spult
brav auf jede der ausgewählten Fragen eine Antwort runter und
appelliert an das rote Gewissen der Genossen: Sie mögen doch bitte an
die Alleinerziehende denken, an die Rentnerin oder Menschen in
Pflegeheimen. Sie alle warteten doch darauf, dass sich etwas für sie
verändere, «dass wir etwas für sie tun». Es gehe darum, das Land
besser und gerechter zu machen. Dass die SPD seit Jahren mitregiert,
lässt Schulz an dieser Stelle weg.

Er zählt auf, was die SPD alles durchgesetzt habe bei den
Sondierungen mit der Union: Grundrente, Investitionen in Bildung,
Verbesserungen bei Pflege und Kinderbetreuung, Entlastungen für
Familien. Und den großen Aufbruch in Europa. Ja, die SPD habe nicht
alles durchgesetzt, aber doch «eine ganze Menge», meinte er. Und gibt
eine Frage an die Skeptiker zurück - mit Blick aufs Regieren: «Warum
sollten wir es nicht tun, wenn wir das Leben der Menschen konkret
verändern können?»

Viele Facebook-Nutzer, die Schulz' Auftritt am weißen Stehpult live
verfolgen, sehen das anders. Es hagelt spöttische Kommentare
(«unglaubwürdig», «erst hüh, dann hott», «Laber Laber Laber
»). Seine
Wende vom Oppositions- zum Regierungskurs hat Spuren hinterlassen.

Schulz muss bis zum Bundesparteitag am Sonntag in Bonn noch viel
Überzeugungsarbeit leisten. Die SPD-Vorstände in mehreren Ländern
(etwa Niedersachsen oder Brandenburg) haben sich für
Koalitionsverhandlungen mit der Union ausgesprochen. Andere
Landesverbände haben sich per Parteitagsbeschluss oder Vorstandsvotum
gegen eine weitere GroKo in Stellung gebracht: Thüringen oder
Sachsen-Anhalt etwa, auch der Landesvorstand der Berliner SPD. Das
sind nicht alles sehr gewichtige Landesverbände. Und die Delegierten
in Bonn sind auch nicht an Beschlüsse von Landesparteitagen oder
-vorständen gebunden. Für Schulz sind es trotzdem unangenehme Stiche.

Im Moment tourt der oberste Genosse durch jene Landesverbände, die
besonders viele Delegierte nach Bonn schicken und viele
Unentschlossene unter sich haben: Bayern, Rheinland-Pfalz und allen
voran NRW. Von dort kommt ein Viertel der Abgesandten beim Parteitag.

Am Montagabend besuchte Schulz ein großes Delegierten-Vortreffen in
Dortmund. Mehr als drei Stunden bearbeitete er die Genossen hinter
verschlossenen Türen, gemeinsam mit SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles
und dem SPD-Landeschef Michael Groschek. Die Teilnehmer sprachen
hinterher von einer lebhaften Diskussion - respektvoll im Ton, aber
hart in der Sache. Viele kamen mit der gleichen Meinung raus, mit der
sie reingegangen waren. Und viele sind nach wie vor unentschieden.

Schulz ist selbst aus NRW, aber eine richtige Hausmacht hat er nicht.
Dafür war er zu lange «weg», in Brüssel. Das ist zwar in Kilometern

keine große Entfernung, gefühlt für viele Genossen aber schon.

Groschek führt die NRW-SPD anders als die frühere Partei-Frontfrau im
größten Bundesland, Hannelore Kraft. Er versucht es auf die sanftere
Art - mit weniger Basta. Es gibt also gerade nicht die eine große
Leitfigur, um den ganzen Landesverband einzufangen. Und
Unentschlossene und GroKo-Gegner gibt es eben nicht nur in NRW. Auch
die Jusos trommeln unermüdlich gegen eine weitere Runde Schwarz-Rot.

Jeden Tag werben Leute aus der SPD-Führungsriege für
Koalitionsverhandlungen mit der Union. Jeder muss mal ran. Auch
viele, die vor den Sondierungen noch öffentlich skeptisch waren, sind
inzwischen umgeschwenkt. Aber geritzt ist die Sache damit noch nicht.

Die Lage ist unberechenbar. Es bleibt ein kleines Risiko, dass beim
Parteitag am Ende eine Mehrheit gegen den Kurs der Führung votieren
könnte. Aber wahrscheinlich ist das nicht. Denn alle in der SPD
wissen um die Folgen: Martin Schulz müsste sofort abtreten. Die
gesamte Parteispitze, alle, die für ein Ja zu Koalitionsverhandlungen
geworben haben, wären nachhaltig beschädigt. Und bei einer Neuwahl,
die dann wahrscheinlich wäre, könnte die SPD noch weiter abrutschen.
Unter die 20-Prozent-Marke. Das Ganze hätte etwas Märtyrerhaftes.

Es kommt aber nicht nur darauf an, ob beim Parteitag eine Mehrheit Ja
zu Koalitionsverhandlungen sagt, sondern wie viele Delegierte das
tun. Sollte Schulz nur mit einer hauchdünnen Mehrheit im Rücken in
die Verhandlungen mit der Union starten, wäre das für ihn ein
Problem. Es wäre ein schwaches Mandat, er hätte einen denkbar
schlechten Stand bei den Gesprächen. Andererseits könnte er ein
knappes Votum auch als Druckmittel nutzen nach dem Motto: Liebe
Union, wenn ihr mir nicht mehr gebt, übersteht der Koalitionsvertrag
den SPD-Mitgliederentscheid am Ende nie und nimmer. Denn die Genossen
haben zum Schluss noch mal Mitsprache. Falls es denn so weit kommt.