Kriminellem Turnarzt droht Rekordstrafe - US-Verband unter Druck Von Frank Thomas, dpa

Nach schwerwiegenden sexuellen Übergriffen wird der frühere
US-Teamarzt Nassar wohl lebenslang lang in Haft bleiben. Schon vor
dem Urteilsspruch in dieser Woche ist eine Rekordstrafe absehbar.
Über 140 Turnerinnen erheben Klagen und kritisieren den US-Verband.

Ingham County/Michigan (dpa) - Die Vorwürfe sexuellen Missbrauchs von
Minderjährigen sind erschütternd und lassen nun auch den
US-Turnverband in seinen Grundfesten wanken. In dem für diese Woche
erwarteten Urteil droht dem früheren Teamarzt von USA Gymnastics,
Larry Nassar, wegen extremer Übergriffe eine drastische Strafe in
bisher kaum bekannter Dimension.

In seinem Strafantrag fordert der Generalstaatsanwalt von Michigan,
den früheren Mediziner der State University zu 40 bis 125 Jahren
Gefängnis zu verurteilen. Im November hatte sich Nassar bei einer
Anhörung in Lansing, als er mit orangener Gefängniskleidung und
Handschellen im Gerichtssaal erschien, für schuldig befunden, sieben
Mädchen sexuell belästigt zu haben.

Rund 140 Klagen überwiegend minderjähriger Turnerinnen waren bei der
Michigan State Police eingegangen, voraussichtlich 88 Opfer sollen ab
Dienstag angehört, ihre Aussagen in einem Medien-Livestream
öffentlich werden. Bis zum Freitag sind Gerichtstermine vorbereitet.
Doch noch ist unklar, ob dann auch das Urteil gesprochen ist.

Laut dem Lansing State Journal entschieden sich die Staatsanwälte für
diese extremen Strafanträge, um die hohe Zahl von Klagen und die
Vergehen Nassars zumindest annähernd widerzuspiegeln. Bereits im
Dezember war Nassar in einem anderen Prozess wegen Besitzes von
Kinderpornografie zu 60 Jahren Haft verurteilt worden, diese Strafe
wird dem nun zu erwartenden Urteil hinzugerechnet.

Durch die Aussagen - auch solch prominenter Turnerinnen wie der
Olympiasiegerinnen Gabriele Douglas, Alexandra Raisman und McKayla
Maroney - ist auch der Verband schwer unter Druck geraten. USA 
Gymnastics sei zu «100 Prozent» verantwortlich, schrieb Raisman auf
Twitter. Der Verband schiebe die Schuld auf die Opfer. Die
Turnerinnen seien jedoch von einem «Monster» missbraucht worden, dem
der Verband sein Tun jahrzehntelang ermöglicht habe.

«Es war verpflichtend, sich von Nassar «behandeln» zu lassen», sagt
e
Raisman. Viele zahlungskräftige Sponsoren haben sich im Zuge der
Missbrauchsvorwürfe vom Verband abgewandt. Der Anwalt von Turnerin
Maggie Nichols kritisierte den Verband bei CNN, die Vorfälle unter
den Teppich zu kehren.

McKayla Maroney behauptete gleichfalls auf CNN, ihr sei Schweigegeld
gezahlt worden. Sie verklagt daher neben dem Verband auch das
Nationale Olympische Komitee der USA. Einem Bericht des «Wall Street
Journal» zufolge hatte Maroney im Dezember in einer
außergerichtlichen Einigung 1,25 Millionen US-Dollar (rund 1 Million
Euro) erhalten. Dabei sei Vertraulichkeit vereinbart worden.

Maroney sei traumatisiert gewesen und habe Geld für ihre
psychologische Behandlung benötigt, zitiert CNN ihren Anwalt John
Manly. Die Abmachung sei ein unmoralischer und illegaler Versuch, ein
Opfer von Kindesmissbrauch zum Schweigen zu bringen, fügte er hinzu.

USA Gymnastics rechtfertigte sich nach diesen Angriffen und
behauptete, man habe «nie versucht, Nassars Fehlverhalten zu
verstecken». Man habe «die Angelegenheit so vertraulich behandelt, um
die Untersuchung nicht zu beeinflussen».

Der heute 54 Jahre alte Nassar hatte nach rund 20-jähriger Tätigkeit
im US-Verband seine Lizenz 2015 verloren, nachdem Präsident Steve
Penny zurückgetreten war. «Nassar jagte Jahrzehnte lang unwissende
Opfer an jeder Ecke und bei jeder Gelegenheit: Im Keller seines
Hauses, in der medizinischen Klinik, in seinem Fitnessstudio, in
Trainingseinrichtungen und in Hotels auf der ganzen Welt», schrieb
Generalanwältin Angela Povilaitis im Strafantrag.

Er habe seine Vertrauens-Position als Arzt genutzt, um «zu schaden,
statt zu heilen, um unbegrenzten Zugang seinen Opfern zu erhalten, um
jeden Tag seine sexuellen Wünsche auszuleben». Die Michigan State
University kündigte an, einen Fonds von 10 Millionen US-Dollar
einzurichten, um den Opfern zu helfen.

Nassar hatte vor Gericht gesagt, seine Übergriffe täten ihm
«furchtbar leid». Generalstaatsanwalt Bill Schuette hatte den Fall
Nassar zuvor «als Spitze des Eisbergs» bezeichnet. Laut der Zeitung
«Indystar» sollen in den zurückliegenden 20 Jahren 368 Turnerinnen
und Turner durch Trainer, Betreuer oder Turnzentrums-Inhaber
missbraucht worden sein.