Verdrängt bis vergessen - wo es im Organspende-System knirscht Interview: Ulrike von Leszczynski, dpa

Unter einer Million Menschen in Deutschland haben 2017 weniger als
zehn nach ihrem Tod Organe gespendet. Rund 1000 Menschen auf den
Wartelisten starben. Wo liegen die Fehler im System?

Berlin (dpa) - 2017 ist für die Deutsche Stiftung
Organtransplantation ein dramatisches Jahr. Mit nur 797 Organspendern
sank die Zahl auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren. Axel Rahmel,
Medizinischer Vorstand, sieht die Ursachen weniger im Unwillen der
Bevölkerung. Er vermisst den Fokus in Kliniken.

Frage: Liegt der Rückgang von Organspenden am Unwillen der
Bevölkerung? Und vielleicht immer noch an den Manipulationen der
Wartelisten, die 2012 bekannt wurden?

Antwort: Nein, das sehe ich nicht als Hauptgrund. Wenn wir jetzt nach
der Bereitschaft fragen und auch auf die Zahl der Organspendeausweise
schauen, dann zeichnet sich eine positive Entwicklung ab. Es kommt
jetzt häufiger vor als früher, dass der Wille eines verstorbenen
Patienten bekannt ist. Nicht immer schriftlich. Aber in den Familien
wird mehr über Organspende gesprochen. Bei potenziellen Spendern, von
denen wir wissen, lag die Ablehnungsrate 2017 bei 27 Prozent. Damit
liegt sie niedriger als vor einigen Jahren. 2012 waren es 32 Prozent.

Frage: Woran liegt die immer dramatischere Lage dann?

Antwort: In Deutschland ist Organspende noch immer zu sehr vom
individuellen Engagement einzelner Ärzte in den Kliniken abhängig.
Von zentraler Bedeutung ist die Behandlung am Lebensende - wenn es
keine Überlebenschance mehr für einen Patienten mit kompletter
Hirnschädigung gibt. Bevor intensivmedizinische Maßnahmen eingestellt
werden, sollte immer auch an Organspende gedacht und darüber
gesprochen werden. Das ist im Klinikalltag nicht immer der Fall. Das
bedeutet nicht, dass sich Kliniken bewusst der Organspende
verweigern. Die Ursachen liegen vielmehr in den enormen
Leistungsverdichtungen in den Krankenhäusern, am Druck auf den
Intensivstationen und im Personalmangel.

Frage: Aber es gibt doch im Organspende-System in jeder beteiligten
Klinik Transplantationsbeauftragte. Was läuft da schief?

Antwort: Die Rolle der Transplantationsbeauftragten muss gestärkt
werden. Dazu gehört aus unserer Sicht zunächst eine definierte und
verbindliche Freistellung von anderen Tätigkeiten in einer Klinik.
Die gibt es in klarer Form bisher nur im Landesausführungsgesetz in
Bayern. Interessanterweise ist Bayern auch das Bundesland, in dem es
2017 zu einer deutlichen Steigerung der Organspenden gekommen ist -
um 18 Prozent. Das ist eine auffällige Koinzidenz. Denn die
Freistellung wurde in Bayern im Januar 2017 eingeführt. Das könnte
ein Vorbild für andere Bundesländer sein.

Frage: Wie sieht die Lage in diesen Ländern aus?

Antwort: Es gibt eine Untersuchung aus Nordrhein-Westfalen. Sie
zeigt, dass Transplantationsbeauftragte vor einer Einstellung der
intensivmedizinischen Maßnahmen bei Patienten mit schwerster
Hirnschädigung in weniger als 15 Prozent der Fälle eingebunden
wurden.

Frage: Für die Organspende gibt es rund 1250 Entnahmekliniken in
Deutschland. Hören Sie von einigen denn gar nichts?

Antwort: Nicht jeder Patient mit schwerer Hirnschädigung entwickelt
einen Ausfall aller Hirnfunktionen. Es kann durchaus Krankenhäuser
geben, die in einem Jahr keinen potenziellen Organspender haben. In
2017 erfolgte aus nahezu 700 Kliniken keine einzige Meldung. Da gibt
es nach unserer Einschätzung Potenzial für noch mehr Zusammenarbeit.
Ein kleiner Lichtblick ist, dass die Zahl der Spendermeldungen der
Kliniken im Vergleich zum Vorjahr zugenommen hat.

Frage: Wenn Kliniken partout kein Interesse an Organspende haben -
können sie sich dann vom System abmelden?

Antwort: Die Entnahme-Kliniken werden von den Landesministerien
benannt. Damit haben sie den gesetzlichen Auftrag, Organspenden
umzusetzen. Bei der Entscheidung geht es nicht um das Interesse von
Kliniken oder anderen Organisationen. Es geht einzig darum, was ein
Patient am Lebensende wollte. Und wenn er durch eine Organspende
anderen Menschen ein neues Leben schenken wollte, dann ist es unsere
gesellschaftliche Pflicht, diesen Wunsch auch umzusetzen.

Zur Person: Axel Rahmel, Jahrgang 1962, studierte Medizin in
Göttingen und arbeitete nach seiner Promotion als Kardiologe in
Münster und Leipzig. 2005 bis 2014 war er Medizinischer Direktor der
Stiftung Eurotransplant in den Niederladen, die in ihren
Mitgliedsstaaten passende Spenderorgane an Empfänger vermittelt. Seit
2014 ist Rahmel Medizinischer DSO-Vorstand.