Ein Flickenteppich: Altersfeststellung bei jungen Flüchtlingen Von Bettina Grachtrup, dpa

Reichen die Regelungen zur Altersfeststellung von jungen
Flüchtlingen? Darüber ist eine heftige Diskussion entbrannt. Ein
einheitliches Vorgehen der Jugendämter gibt es bislang nicht.

Stuttgart (dpa) - Der Fall sorgt bundesweit für Entsetzen: Ende
Dezember wird eine 15-Jährige im rheinland-pfälzischen Kandel bei
einer Messerattacke so schwer verletzt, dass sie stirbt. Mutmaßlicher
Täter ist der Ex-Freund, ein nach offiziellen Angaben gleichaltriger
Flüchtling aus Afghanistan, der allein nach Deutschland gekommen ist.
Doch am Alter gibt es Zweifel. Mehrere Politiker fordern nun
obligatorische Tests bei Flüchtlingen, wenn deren Alter nicht mit
Dokumenten nachgewiesen werden kann. Das Thema ist komplex.

Die Jugendämter gehen bei der Altersfeststellung unterschiedlich vor,
wie der Beigeordnete des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Uwe
Lübking, sagt. Zwar ist das Verfahren bundesweit grundsätzlich im
Sozialgesetzbuch geregelt. Demnach muss das Jugendamt zunächst nach
Ausweispapieren fragen und den Flüchtling etwa durch Befragungen und
eigene Beobachtungen altersgemäß einschätzen. Im Zweifel kann das Amt

eine ärztliche Untersuchung veranlassen, die nur mit Einwilligung des
Betroffenen möglich ist. Sie kann nach einer Lesart auch die
radiologische Untersuchung etwa der Handknochen oder Schulterblätter
beinhalten - ob dies das Gesetz hergibt, ist aber umstritten.

Das Saarland hat eine sogenannte zentrale Vorclearingstelle
eingerichtet, die beim Sozialministerium angegliedert ist. «Als 2015
viele Flüchtlinge ins Land kamen, kamen die Jugendämter im Saarland
an ihre Grenzen und haben das Land gebeten zu helfen», erklärt eine
Sprecherin. Von Februar 2016 bis Anfang dieses Jahres habe es 528
junge Flüchtlinge gegeben, bei denen es nach oberflächlichen
Betrachtungen und Befragungen Zweifel an der Minderjährigkeit gegeben
habe. Sie wurden radiologisch untersucht. Ergebnis: 254 wurden als
volljährig eingeschätzt. Erst nach der Altersfeststellung werden sie
auf andere Bundesländer oder Kommunen im Saarland verteilt. Ähnlich
geht auch Hamburg vor.

Das Röntgen zur Altersbestimmung ist umstritten. Der Präsident der
Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, hält das Röntgen des
Handgelenks ohne medizinische Notwendigkeit für einen «Eingriff in
die körperliche Unversehrtheit». Der Bundesfachverband unbegleitete
minderjährige Flüchtlinge, das Deutsche Kinderhilfswerk und die
Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW)
führen an, es sei medizinisch nicht möglich, ein Alter festzustellen.
«Experten sind sich einig, dass nur eine grobe Schätzung mit einer
Streubreite von mehreren Jahren möglich ist.» Hingegen meint der
Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik,
Andreas Schmeling, zwar könne man nicht das exakte Alter bestimmen,
aber der zweifelsfreie Nachweis der Volljährigkeit sei möglich.

Auch wegen der kritischen Haltung in Teilen der Ärzteschaft wenden
viele Bundesländer das Röntgen zur Altersfeststellung kaum oder gar
nicht an. In Baden-Württemberg etwa meint das von den Grünen geführte

Sozialministerium, dass es für eine Röntgenuntersuchung zur
Altersbestimmung durch das Jugendamt eine ausdrückliche gesetzliche
Ermächtigung brauche, die aber fehle. «In der Praxis dürften
angesichts der ablehnenden Haltung der Landesärztekammer
Baden-Württemberg ohnehin nur wenige Ärzte in Baden-Württemberg
bereit sein, entsprechende Untersuchungen durchzuführen», heißt es in

einem Hinweispapier des Ministeriums aus dem August 2016.

Innenpolitiker verweisen aber darauf, dass es auch noch das
Aufenthaltsgesetz des Bundes gibt. Darin steht, dass bei Zweifeln
«erforderliche Maßnahmen» zu treffen sind, um das Alter
festzustellen. Dazu gehören demnach auch körperliche Eingriffe, wenn
keine Nachteile für die Gesundheit des Ausländers zu befürchten sind.

Damit sehen Innenpolitiker auch Röntgenuntersuchungen gedeckt.

Manche Jugendämter halten die aber nicht für nötig. Das Jugendamt in

Stuttgart zählte im vergangenen Jahr 227 junge, unbegleitete
Flüchtlinge, die behaupteten, sie seien minderjährig. Nach Angaben
des stellvertretenden Jugendamtsleiters Heinrich Korn wurden 33
Prozent als volljährig eingestuft. Stuttgart setzt auf eine genaue
Befragung. «Wir glauben, dass wir bei medizinischen Untersuchungen
nicht zu anderen Ergebnissen kommen würden.»

Vom Alter hängt viel ab: Unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge
brauchen einen Vormund. Sie leben nicht in Sammelunterkünften,
sondern in Familien oder Wohngruppen. Nach Darstellung des
Beigeordneten des Städte- und Gemeindebundes, Lübking, bekommen sie
eine pädagogische Betreuung und in der Regel sofort eine Duldung.
Damit kommt für sie eine Abschiebung, die bei Minderjährigen generell
schwierig ist, erst einmal nicht infrage. Auch für die Frage der
Strafmündigkeit ist das Alter wichtig: So geht es im Prozess gegen
den Flüchtling Hussein K., der 2016 in Freiburg eine Studentin
vergewaltigt und bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt haben soll, auch um
die Frage, ob der Angeklagte zur Tatzeit minderjährig war.

Der Städte- und Gemeindebund fordert daher eine einheitliche,
bundesweite Regelung zur Altersfeststellung. «Wir wollen diesen
Flickenteppich der Länder nicht.» In der Pflicht ist seiner Meinung
nach der Bund, Vorbild ist für ihn das Saarland. «Wir erwarten, dass
eine Verteilung von jungen Flüchtlingen auf die Kommunen erst dann
stattfindet, wenn ihre Identität geklärt ist - auch das Alter.»