Union und SPD nehmen Kurs auf große Koalition Von Teresa Dapp, Marco Hadem, Christiane Jacke, Nico Pointner, dpa

Dreieinhalb Monate nach der Bundestagswahl rückt eine neue Regierung
in Deutschland näher. Die Spitzen von Union und SPD gehen mit einem
Kompromiss nach 24 Stunden Verhandlungsmarathon auf Regierungskurs.
Nun hängt alles von der SPD-Basis ab.

Berlin (dpa) - Die Spitzen von Union und SPD steuern mit einem
umfangreichen Kompromiss zu Flüchtlingen, Rente und Investitionen auf
eine neue große Koalition zu. In der SPD gibt es allerdings starke
Widerstände. Die Parteiführung will die zweifelnde Basis unter
anderem mit den geplanten sozialen Verbesserungen und
Milliardenausgaben des Bundes überzeugen. Bundeskanzlerin Angela
Merkel (CDU) möchte mögliche Koalitionsverhandlungen bis zur
Karnevalszeit Mitte Februar abschließen.

Merkel, SPD-Chef Martin Schulz und der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer
einigten sich am Freitag in Berlin nach einer mehr als 24-stündigen
Schlussrunde der Sondierungen auf Grundzüge der Zusammenarbeit. Über
den Start von Koalitionsverhandlungen entscheidet ein SPD-Parteitag
am 21. Januar. Über eine neue großen Koalition stimmen dann die
SPD-Mitglieder ab. Die CDU will auf einem Parteitag entscheiden.

Anders als von der SPD gefordert soll es keine Steuererhöhungen
geben, aber eine Entlastung kleiner und mittlerer Einkommen. Die
geplante Rückkehr zu von Arbeitgebern und Arbeitnehmern geteilten
Krankenkassenbeiträgen, ein höheres Kindergeld und eine Grundrente
für langjährige Geringverdiener sollen Verbesserungen für Millionen
Bürger bringen. Auch geplante Milliardenausgaben für Kitas, Schulen,
den Wohnungsbau und Kommunen verbuchten SPD-Vertreter als Erfolge.

Der Flüchtlingszuzug soll auf 180 000 bis 220 000 pro Jahr begrenzt
werden. Der Familiennachzug für Flüchtlinge mit eingeschränktem
Schutzstatus soll zunächst weiter ausgesetzt bleiben, bis eine
Neuregelung gefunden ist, und dann auf 1000 Menschen pro Monat
begrenzt werden. Hier finden sich zentrale Forderungen der Union
wieder. Schon in der nächsten Monaten soll ein Gesetzentwurf für eine
Verlängerung der Aussetzung des Familiennachzugs auf den Weg kommen.

Schulz zeigte sich optimistisch, dass die SPD ihm folgen wird. «Ich
glaube, dass wir hervorragende Ergebnisse erzielt haben.» Seehofer
sprach von einem «Aufbruch», die Kanzlerin von einem «Papier des
Gebens und des Nehmens».

Alle drei Parteivorsitzenden sind nach massiven Verlusten bei der
Bundestagswahl angeschlagen. Vor allem Schulz steht unter Druck. Der
SPD-Vorstand sprach sich mit großer Mehrheit für
Koalitionsverhandlungen aus, der Vorstand der CDU und die
CSU-Landesgruppe jeweils einstimmig.

Schulz will zusammen mit der Parteispitze in den nächsten Tagen bei
der Basis für eine Neuauflage der ungeliebten großen Koalition
werben. Die Jusos wollen dagegen Widerstand mobilisieren. Die
SPD-Linke zeigte sich gespalten - es gab Stimmen für und gegen
Koalitionsverhandlungen.

Merkel unterstrich nach Abschluss der Sondierungen, das Papier sei
«nicht oberflächlich». Es gehe um Zukunftsinvestitionen, besonders in

Kinder und Familien. Zudem müsse in Wohnungen, in den Verkehr sowie
in die Energiewende mehr investiert werden. 15 000 neue Stellen für
Polizisten seien nötig, Gerichte müssten entlastet werden. Die Welt
warte nicht auf Deutschland. Deshalb bedürfe es für Europa eines
neuen Aufbruchs. Sie sei sich nicht immer sicher gewesen in den
vergangenen 24 Stunden, dass es gelinge. Sie sei aber jetzt
optimistisch, dass die Dinge vorangehen.

Schulz sagte, man habe hart gerungen. Das Papier spiegele nun den
Wunsch nach Erneuerung wider, bei Familien, bei Bildung und bei der
digitalen Herausforderung. Die Verhandlungen seien zum Teil turbulent
verlaufen, seien aber zu keinem Moment auf der Kippe gestanden. Die
drei Parteien seien bereit, Europa wieder stark zu machen.

Auch die CSU ist mit dem Sondierungsergebnis nach den Worten von
Seehofer «hochzufrieden». Für die CSU sei kein zusätzlicher Parteit
ag
zur Bestätigung nötig. Die CSU-Forderung nach Ausweitung der
Mütterrente findet sich in abgeschwächter Form in der Einigung.
Anders als von der SPD gefordert, umfasst die Einigung keine
Bürgerversicherung und keine Aufhebung des Verbots von Kooperation
des Bundes mit den Ländern in der Bildung.

Die von der SPD geforderte Anhebung des Spitzensteuersatzes soll
nicht kommen. Es gebe keinen Steuererhöhungen, hieß es. Das
Rentenniveau soll bis 2025 bei 48 Prozent gehalten werden. Für die
Zeit danach soll eine Rentenkommission tagen.

Der Solidaritätszuschlag soll in dieser Legislaturperiode um 10
Milliarden Euro abgebaut werden. Das soll kleine und mittlere
Einkommen bis zu etwa 60 000 Euro betreffen. Das Kindergeld soll in
zwei Schritten um 25 Euro erhöht werden.

Obwohl die Wünsche der drei Parteien insgesamt an die 100 Milliarden
Euro teuer geworden wären, solle jetzt der finanzielle Spielraum von
bis zu 45 Milliarden Euro eingehalten werden, hieß es. Die Union
pochte dem Vernehmen nach angesichts der sprudelnden Steuereinnahmen
auf die «schwarze Null» - also den Verzicht auf neue Schulden.