Bundespräsident ruft Sondierer zu Verantwortungsbewusstsein auf Von Ruppert Mayr, Martina Herzog und Thomas Lanig, dpa

Nacht der Entscheidung für CDU, CSU und SPD: Bis zuletzt ringen
Angela Merkel, Martin Schulz und Horst Seehofer um Kompromisse. Auch
ein Scheitern war bis zuletzt nicht ausgeschlossen.

Berlin (dpa) - Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat CDU, CSU
und SPD in der Schlussphase der Sondierungen für eine
Regierungsbildung an ihre Verantwortung erinnert. Sie seien nicht nur
ihren Parteien und der eigenen politischen Zukunft verpflichtet,
sondern hätten auch große Verantwortung für Europa und die
internationale Politik, mahnte das Staatsoberhaupt am Donnerstag in
Berlin beim Neujahrsempfang für das Diplomatische Korps.

Die Unterhändler der drei Parteien rangen am Donnerstagabend noch um
eine Einigung. In ihrer voraussichtlich letzten Sondierungsrunde
mussten sie noch eine ganze Reihe dicker Brocken bei den Themen
Steuer und Finanzen sowie Migration und Flüchtlingsnachzug,
Arbeitsmarkt, Gesundheit, Pflege, Renten und Europa aus dem Weg
räumen.

SPD-Chef Martin Schulz rückte zum Auftakt der Gespräche auch die
Europapolitik in den Mittelpunkt. «Wenn wir in eine solche Regierung
eintreten, dann unter der Bedingung, dass sie Europa stark macht»,
sagte er vor der SPD-Zentrale, wo die entscheidende Runde stattfand.
Schulz zeigte sich ebenso wie Kanzlerin Angela Merkel
(CDU) zuversichtlich, dass die Gespräche erfolgreich abgeschlossen
werden könnten.

Die Verhandlungen wechselten zwischen Sitzungen von Arbeitsgruppen,
Sechser-Runden der Partei- und Fraktionschefs, getrennten Beratungen
der einzelnen Seiten und der großen Gruppe der Unterhändler.
Spätestens Freitagmorgen wollten Merkel, Schulz und CSU-Chef Horst
Seehofer ihren Gremien ein Ergebnis vorlegen.

Entscheidend wird auch sein, ob die Sozialdemokraten etwa bei den aus
ihrer Sicht zentralen Gerechtigkeitsthemen ausreichende
Verhandlungserfolge erzielen. Die SPD-Spitze braucht für den Eintritt
in Koalitionsverhandlungen die Zustimmung eines Parteitags, der am
21. Januar in Bonn stattfinden soll und als große Hürde gilt.

So wollen die Jusos Widerstand gegen eine Neuauflage der großen
Koalition mobilisieren. Juso-Chef Kevin Kühnert will dafür unter
anderem durch mehrere SPD-Landesverbände touren, wie er der dpa
sagte.

Ein SPD-Projekt ist eine einheitliche gesetzliche Bürgerversicherung
im Gesundheitssystem. Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach
sagte auf die Frage, ob die SPD daran festhalte: «Wir kämpfen bis zum
Schluss, das ist ja ganz klar.» Die Union lehnt eine
Bürgerversicherung ab.

Aktivisten der Organisation Avaaz protestierten vor der SPD-Zentrale
mit einem Konterfei des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und
einem Banner mit der Aufschrift: «Make Europe great again». Für mehr

Klimaschutz demonstrierten Greenpeace-Aktivisten. Die Unterhändler
hatten schon zu einem frühen Zeitpunkt der Sondierungen einen
Ausstieg aus den nationalen Klimazielen 2020 ins Auge gefasst.

CDU, CSU und SPD loteten seit Mittwoch parallel zu den Beratungen auf
unterschiedlichen Ebenen die finanziellen Spielräume für eine große
Koalition in der laufenden Legislaturperiode aus. Im Gespräch war ein
Finanzrahmen von bis zu 45 Milliarden Euro. Dem Vernehmen nach waren
die Wünsche am Mittwochabend noch wesentlich teurer.

In diesem Zusammenhang gab es auch Differenzen zwischen den drei
Parteien bei der künftigen Steuer- und Finanzpolitik. Die CSU lehnt
die Forderung der SPD nach einer schrittweisen Anhebung des
Spitzensteuersatzes von 42 auf 45 Prozent ab. Die Erhöhung solle nach
SPD-Vorstellung als Ausgleich für Pläne dienen, den Spitzensteuersatz
von knapp 55 000 Euro auf 60 000 Euro Jahreseinkommen anzuheben.

DIHK-Präsident Eric Schweitzer warnte die Sondierer erneut vor
Steuererhöhungen. «Wir haben auf vielen Gebieten Nachholbedarf, aber
ganz sicher nicht beim staatlichen Einsammeln von Geld», sagte
Schweitzer der dpa in Berlin. «Wenn ab einem Jahresertrag von 100 000
Euro gar nicht mehr entlastet oder sogar mehr Steuern gezahlt werden
sollen, dann trifft das rund 200 000 deutsche Unternehmen. Wir
sprechen hier vom Herz des deutschen Mittelstandes.»

Die Krankenkassen riefen Union und SPD auf, ein Gesamtkonzept gegen
die enormen Pflegelücken in Deutschlands Krankenhäusern zu
entwickeln. Eine neue große Koalition dürfe nicht «immer mehr Geld
mit der Gießkanne an alle Krankenhäuser» ausschütten, sagte der
Vize-Chef des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenversicherung,
Johann-Magnus von Stackelberg, der dpa.

Unter anderem beim Unkrautgift Glyphosat, das für massiven Ärger in
der bisherigen großen Koalition gesorgt hatte, haben Union und
SPD bereits eine gemeinsame Position gefunden. Einig sind sich die
Sondierer auch darin, Diesel-Fahrverbote vermeiden und generell
Luftverschmutzung durch Autoabgase senken zu wollen.

Die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer,
Mitglied des CDU-Sondierungsteams, wurde bei der Fahrt nach Berlin
bei einem Autounfall verletzt und bleibt voraussichtlich noch bis zum
Freitag im Krankenhaus.