Gesünder dank Daten? Digitalisierung soll Medizin voranbringen Von Alexander Sturm, dpa

Der Trend zu Vernetzung erfasst auch die Medizin: Kliniken und
Gesundheitskonzerne testen neue digitale Methoden wie die Analyse von
Patientendaten. Das soll Forschung und Behandlung verbessern. Doch
wer schützt sensible Daten vor Missbrauch?

Frankfurt/Main (dpa) - Tabletten, die nach Auflösung im Magen Signale
zur korrekten Einnahme senden oder Kontaktlinsen, die stetig den
Augendruck messen, um Grünen Star zu verhindern: In der Medizin der
Zukunft ist vieles denkbar, was heute wie Zukunftsmusik klingt. Der
Heilkunst - bisher wenig von der Digitalisierung umgewälzt - steht
ein Wandel bevor. Er birgt Chancen für Patienten, Erleichterungen für
Ärzte, Geschäfte für Konzerne, aber auch Risiken beim Datenschutz.

Weltweit werde sich der digitale Gesundheitsmarkt bis 2020 mehr als
verdoppeln auf gut 200 Milliarden Dollar (170 Mrd Euro), schätzt die
Beratungsfirma Roland Berger. Investoren steckten Unsummen
in Wachstumsfirmen, die Gesundheits-Apps fürs Smartphone entwickeln.
Sie könnten Blutdruck und Körpertemperatur erfassen, erste Diagnosen
erstellen und Besitzern den Arztbesuch empfehlen. Und elektronische
Patientenakten könnten Behandlungen verbessern und die Kosten in den
Gesundheitssystem mittelfristig um 80 Milliarden Dollar senken, sagt
Thilo Kaltenbach, Partner bei Roland Berger.

Die Auswertung von Patientendaten ist eines der wichtigsten
Zukunftsprojekte im deutschen Gesundheitssystem. Üppig gefördert mit
150 Millionen Euro vom Bundesforschungsministerium läuft eine
Initiative, mit der Universitätskliniken eines Tages Patientendaten
austauschen könnten. Bisher wurden schon Abrechnungsdaten von
Krankenkassen analysiert, nicht aber medizinische Daten.

Schon heute produzierten Klinik und Forschung sehr viele Daten, heißt
es beim Ministerium. «Immer mehr Röntgenbilder, Arztbriefe oder
Laborwerte werden elektronisch erfasst». Die Daten würden aber zu
wenig verknüpft. Patienten absolvierten daher oft eine Odyssee bei
Ärzten, bis sie die richtige Behandlung erhielten. Oft mangele es an
vergleichbaren medizinischen Fällen oder Langzeiterfahrung.

Nun soll eine Brücke zwischen Patientenversorgung und Forschung
entstehen. Das Projekt helfe Forschern, ein besseres Verständnis von
Krankheiten zu erlangen, das für neue Präventions-, Diagnose- und
Therapieverfahren «dringend benötigt wird». Am Ende sollen Kliniken
und Ärzte über Schnittstellen auf Patientendaten zugreifen und sich
auf alle im Gesundheitssystem wichtigen Daten stützen.

Großbritannien habe mit der Einbindung von Betroffenenkompetenz gute
Erfahrungen gemacht, sagt Susanne Mauersberg, Gesundheitsexpertin
beim Verbraucherzentrale Bundesverband. «Indes wird in der Forschung
auch mit Big Data dringend mehr Patientenerfahrung benötigt».

Auch Ärztevertreter begrüßen die Nutzung anonymisierter
Behandlungsdaten. Für die Forschung wäre es ein «echter Fortschritt
»,
wenn Patienten festlegen könnten, ob ihre Behandlungsdaten in
«gesicherten und staatlich kontrollierten» Datenbanken hinterlegt
werden dürften, sagt Peter Bobbert, Bundesvorstand beim Marburger
Bund. Dafür müssten aber hohe wissenschaftliche und ethische
Standards gelten und Patienten Herr des Verfahrens bleiben. «Der
Datenschutz darf nicht außer Kraft gesetzt werden.»

Eine gemeinsame Position aller Bundesländer für die Zustimmung der
Patienten fehlt noch. Mauersberg wirbt für eine praxistaugliche
Lösung. Wenn Kranke für jeden Zweck einzeln zustimmen müssen, sei das

wenig praktikabel. «Wir brauchen zudem einen zeitgemäßen und
dynamischen Datenschutz.» Negativbeispiel sind aus ihrer Sicht die
USA: Dort werden Patientenprofile gehandelt.

Doch nicht nur der Bund, auch die Privatwirtschaft testet die
ökonomischen und medizinischen Chancen von Patientendaten.
Deutschlands größter Klinikbetreiber Fresenius Helios unternimmt
erste Versuche und der Softwarekonzern SAP arbeitet mit der Berliner
Charité Klinik an einem Projekt, das die Behandlung chronisch Kranker
per Nutzung von Patientendaten verbessern soll. «In Krankenhäusern
liegen tonnenweise Daten, die sie alleine gar nicht nutzen können»,
sagte SAP-Experte Kai Sachs auf einer Konferenz in Frankfurt.

Ließen sich Daten verknüpfen und Ärzten zur Verfügung stellen, kö
nnte
das die Therapien chronisch Kranker verbessern, so die Vision. Daten
könnten vor Herzschäden warnen, wenn der Ruhepuls von Patienten
regelmäßig zu hoch sei oder Datenschwankungen auf schädliche
Wassereinlagerungen hindeuteten. Es gehe um ein Prototyp-Projekt,
betont SAP. Alle Datenschutz-Gesetze würden eingehalten.

Wirtschaftliche Vorteile der Digitalisierung, die dem
Gesundheitswesen insgesamt zugutekämen, seien begrüßenswert, meint
der Marburger Bund. Die große Mehrheit der angestellten Ärzte glaube,
dass die Digitalisierung die Arbeit im Krankenhaus verbessert könne.
Ökonomische Aspekte dürften jedoch nicht im Vordergrund stehen. «Wir

müssen verhindern, dass finanzstarke Unternehmen aus personalisierten
medizinischen Daten ein Geschäftsmodell zur Steigerung des eigenen
Gewinns entwickeln», sagt Bobbert.

Digitale Zukunftsprojekte kosten allerdings viel Geld - und das ist
knapp in Krankenhäusern. Ein Viertel der rund 2000 Kliniken
hierzulande schreibt laut der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG)
Verluste. Für die digitale Aufrüstung seien zehn Milliarden Euro
nötig, schätzt der Marburger Bund. Er fordert ein «staatliches
Sonderprogramm».

Bisher aber fließt das Geld eher zäh. Von den jährlich für
Investitionen benötigten sechs Milliarden Euro zahlten die
Bundesländer nur etwa die Hälfte, kritisiert die DKG. Geld für
Modernisierung fehle an allen Ecken und Enden. Bis sich digitale
Vorzeigeprojekte in Kliniken durchsetzen, muss noch viel passieren.