Kinder mit Kernschmelze Von Sandra Trauner , Sebastian Gollnow und Friso Gentsch , dpa

«Klar ist das im ersten Moment ein Schock.» Das sagt eine Mutter über

den Augenblick, als ihr Sohn die Diagnose erhält: Autismus. Für viele
Familien wird damit der Alltag zum Kraftakt. Für Kinder bedeutet die
Störung lebenslange Therapie - manche meinen auch Drill.

Frankfurt/Main (dpa) - «Zahnbürste», sagt Eva. «Zahnpasta», sagt

Aron. «Zahn-Bürste!», wiederholt Eva. «Zahnbürste», sagt Aron.
Es
macht klick: Immer wenn der 14-Jährige ein Wort richtig nachspricht,
drückt Eva auf den Knopf des kleinen Kästchens in ihrer Hand. Der
Zähler rückt eine Ziffer vor. Bald hat Aron die 20 erreicht.
«Super!», lobt Eva. Aron bekommt ein paar Minuten Auszeit - Belohnung
und Entspannung für den autistischen Jungen.

Stunde um Stunde, jeden Tag, seit mehr als zehn Jahren - der Teenager
braucht permanente Betreuung. Vormittags mit Eva Bassler, seiner
Eingliederungshilfe in der Fröbel-Schule in Fellbach bei Stuttgart.
Nachmittags mit drei Therapeutinnen zu Hause. Heute ist Beate da. Auf
der Lern-Liste stehen: in die Hocke gehen, Zahlen erkennen,
telefonieren. Aron ruft seine Mutter im Wohnzimmer an und bittet um
ein Eis. «Aber gern, mein Schatz!», sagt Katja Pleterski (44) und
geht zum Kühlschrank. 

Erwünschtes Verhalten verstärken, unerwünschtes ignorieren. Und übe
n,
üben, üben. Das ist der Kern einer Therapie, die bei Kindern mit
einem frühkindlichen Autismus als Standard gilt. Extremformen dieser
Methode sind zwar umstritten. Sie werden als Drill und Dressur
kritisiert. Für Familien wie die Pleterskis sind sie Hoffnung auf ein
Leben, das nie leicht sein wird, aber leichter.

BREITES SPEKTRUM

Experten schätzen, dass 800 000 Menschen in Deutschland von einer
Autismus-Spektrum-Störung betroffen sein könnten. Wie viele es genau
sind, hängt von der Definition ab - und die ist sehr breit. Dazu
zählen Menschen mit leichtem Asperger-Syndrom. Ihnen fallen soziale
Kontakte schwer. Sie können aber wegen ihrer Detailverliebtheit
gesuchte Spezialisten sein wie der Physiker Sheldon in der US-Serie
«Big Bang Theory».

Aron zählt zu den schweren Fällen, er hat frühkindlichen Autismus.
«Die Hälfte der Autisten, die auf dem Spektrum dort stehen, wo Aron
ist, lernen nie sprechen und tragen lebenslang Windeln», sagt Katja
Pleterski. Ihr Sohn war zwei Jahre alt, als sie die Diagnose bekam.
«Klar ist das im ersten Moment ein Schock.» Was kann ich tun, habe
sie die Ärzte gefragt. Und zur Antwort bekommen: «Suchen Sie einen
guten Heimplatz.» Das kam für die Psychologin, die heute
selbstständig als Coach arbeitet, nicht in Frage. 

Als ihr Sohn sechseinhalb war, hat die Mutter ihn «mit viel Waschen
und wenig Schlafen» der Windel entwöhnt. Mit 14 kann er zwar keine
ganzen Sätze sprechen, aber immerhin drei Worte aneinander reihen.

Aron lebt mit seiner Mutter, deren neuem Partner, seiner Schwester
sowie tageweise bei seinem Vater in einem Ort nahe Stuttgart. 24
Stunden umsorgt von Menschen, die ihn akzeptieren, wie er ist. Und
die ein Bindeglied bilden zur Welt da draußen. Einer Welt, in der
Aron auf wenig Verständnis hoffen kann.

AUSRASTER SIND PROGRAMMIERT

Besonders verstört reagieren andere, wenn Autisten heftige Anfälle
bekommen. «Meltdowns», Kernschmelzen, heißen die gefürchteten
Zwischenfälle. Solche Ausraster werden auch für ihr Umfeld zur
Belastungsprobe. Ausgelöst werden sie zum Beispiel durch
Reizüberflutung, Frust oder das simple Wort «Nein».

«Nein mag er gar nicht», sagt Eva Bassler, die Aron in der Schule von
8 bis 15 Uhr keinen Schritt von der Seite weicht. Sogar auf die
Toilette begleitet sie ihn. «Manchmal geht's ganz schön ab», sagt die

Österreicherin. Sie habe gelernt, das nicht persönlich zu nehmen.

Sechs Kinder sitzen in der 9. Klasse von Hannah Kuhnle, die auch Aron
besucht. «Die Mitschüler mögen ihn», sagt die 25-Jährige, «auch
wenn
er schreit, Geräusche macht oder vor sich hin brabbelt».

Sich wiederholende Verhaltensweisen sind typisch für Menschen mit
Autismus-Spektrum-Störungen. Seit ein paar Tagen ist es bei Aron ein
ploppendes Geräusch mit geschürzten Lippen. Sein Körper ist oft
angespannt, die Hände verkrampft, die Schultern hochgezogen. «Wenn er
sich einmal am Tag richtig durchstreckt, dann war das ein guter Tag»,

sagt Schul-Betreuerin Eva.

Was sie morgens im Unterricht anfängt, setzen Beate Mangold-Birli und
ihre Kolleginnen nachmittags zu Hause fort, drei bis vier Stunden
jeden Tag. Sie arbeiten mit einer Art Fahrplan, den Arons Mutter an
den Wochenenden ausarbeitet. Darin stehen Lernziele und Aufgaben.

EIN THERAPIEHUND HILFT

Im Wohnzimmer liegt Buddy, Arons Therapiehund, und wartet aufs
Gassigehen. Andrea Patrzek hat die Promenadenmischung zum
Autismus-Begleithund ausgebildet. «Die Lernmethode ist die gleiche»,
sagt die Trainerin. Ob Verhaltenstherapie oder Hundeausbildung:
«Beide arbeiten mit Verstärkung. Wir bestärken das richtige Verhalten

und gehen auf Fehlverhalten nicht ein.» Im Kern seien Hundedressur
und Autismus-Therapie á la ABA eine «klassische Konditionierung».
 

ABA - diese Abkürzung gilt manchen als Reizwort. ABA steht für
«Applied Behavior Analysis», auf Deutsch Angewandte
Verhaltensanalyse. Das ist eine in den 1960er Jahren in den USA
entwickelte Variante der Verhaltenstherapie. 

STREIT UM DIE RICHTIGE BEHANDLUNG

Einige Betroffene wie die Bloggerin Marlies Hübner lehnen
ABA-Therapien aber als «erzwungene Anpassung an die Norm» ab. ABA
setze sich über die Bedürfnisse des behinderten Menschen hinweg,
heißt es in einem 2016 veröffentlichten Brandbrief, unter dem sechs
Autoren stehen. Menschen mit Autismus würden gezwungen,
Verhaltensweisen zu erlernen, die ihrer Natur widersprächen, zum
Beispiel Blickkontakt zu suchen oder Berührungen zu ertragen. Von
«Drill», sogar von «Folter» ist die Rede.

Die Vorsitzende des Verbands Autismus Deutschland, Maria Kaminski,
mahnt zur Differenzierung. «Die Frage ist: Muss ich
Verhaltenstherapie in unmenschlichen Drill ausarten lassen? Oder
binde ich das ein in die liebevolle, aber konsequente Erziehung?»,
sagt die Osnabrückerin. Ein großer Teil der Eltern habe damit gute
Erfahrungen gemacht, ein kleiner Teil lehne es als Dressur ab.
«Wichtig ist natürlich, dass man die Würde des Kindes wahrt.» 

Ihr heute 41 Jahre alter Sohn Daniel habe «viele Stunden intensiver
Einzeltherapie» hinter sich. Als Kind sei er ein nicht sprechender,
aggressiver Autist gewesen. Heute könne er seine Bedürfnisse
ausdrücken, in eine Werkstatt gehen und mit Begleitung in die Disco. 

Maria Kaminski hat den Selbsthilfeverband mitbegründet. Er
unterstützt zum Beispiel Eltern juristisch, wenn die Ämter
Therapiekosten ablehnen.

STREIT UM GELD FÜR THERAPIE 

Auch Arons Mutter Katja Pleterski musste klagen, bevor das
Landratsamt monatlich 1500 Euro für die ABA-Therapie übernahm. Ein
Unding, findet Kaminski: Die Gesellschaft spare sich hohe
Folgekosten, wenn sie früh in Therapie investiere, «statt lebenslang
immense Heimkosten zu bezahlen».

Wie also kann man autistischen Kindern und deren Familien am besten
helfen? Das erforscht seit zehn Jahren das Autismustherapie- und
Forschungszentrum am Frankfurter Universitätsklinikum, kurz ATFZ.

Ein Ort zum Wohlfühlen ist dieses Zentrum trotz aller Fachkompetenz
nicht: Die Psychiatrie der Uni-Klinik platzt aus allen Nähten. Das
Autismuszentrum muss sich mit Baucontainern begnügen. Familien aus
einem Umkreis von mehr als 100 Kilometern kommen hierher.

LANGE WARTELISTE IN FRANKFURTER ZENTRUM 

Rund 70 Kinder und Jugendliche zwischen 2 und 21 Jahren sind derzeit

in Behandlung. «Wir haben eine lange Warteliste», sagt Karoline
Teufel, die klinische Leiterin. Eine Besonderheit in Frankfurt:
das Elterntraining. Väter und Mütter erfahren hier, was Autismus
ist
und wie man mit den «herausfordernden Situationen» umgeht.

Das ist bitter nötig. Im Alltag kämpfen die Familien an mindestens
zwei Fronten: Mit den lautstarken Ausbrüchen des Kindes und den
zufälligen Zeugen. «Das Schlimmste ist die Reaktion der
Gesellschaft», sagt Katja Pleterski. Im Schwimmbad warf sich Aron mal
auf den Boden und schrie - bis ein Badegast die Eltern anbrüllte, er
habe Eintritt bezahlt und wolle seine Ruhe. «Das macht Stress.»

GROSSE PLÄNE: EIN URLAUBSDORF 

Nach einem Zusammenbruch am Frankfurter Flughafen wurden Flugreisen
aus dem Ferienprogramm gestrichen. Seither heißt Urlaub: Wir besuchen
die Oma. Vielen Familien mit autistischen Kindern gehe es genauso,
sagten sich die Eltern - und entwarfen die Idee eines
«therapeutischen Feriendorfs».

Arons Stiefvater Niels Schumann ist Bankkaufmann, Betriebswirt und
managt internationale Großprojekte. «Autzeit» haben die beiden ihre
n
Plan genannt, darin stecken Autismus und Auszeit. «Wir wollen einen
Ort schaffen, wo alle so sein dürfen, wie sie sind», sagt er.

2016 haben die Gründer eine gemeinnützige gGmbH geschaffen. Was
fehlt, ist Geld: 30 Millionen Euro, sagt Schumann. Eine
Fundraising-Kampagne soll helfen. Maria Kaminski findet die Idee vor
allem mutig: «Toll, wenn sich das jemand zutraut.» Sie selbst fährt

seit Jahren mit einer Reisegruppe von erwachsenen Autisten in Urlaub.
Ihre Erfahrung: «Man kann in ein Sterne-Restaurant gehen oder an eine
Pommesbude. Alles dazwischen ist schwierig.» 

Für Aron war der Tag, an dem eine Journalistin mit Schreibblock und
ein Fotograf mit Kamera hinter ihm herliefen, mehr als anstrengend.
Beim Versuch einer Begrüßung morgens vor der Schule wandte er sich ab
und drehte eine Runde auf dem Hof. Beim Abschied am Abend, nach
vielen Stunden voll ungewohnter Kontakte, sitzt er entspannt im
Wohnzimmersessel und schüttelt den Gästen die Hand.