Organe für Europa Von Benno Schwinghammer und Oliver Weiken , dpa

In den düstersten Häuserschluchten Kairos suchen Männer nach neuen
Opfern für ein perverses System. Es sind die Verzweifelten, die hier
ihre Organe verkaufen. Und oft von einem Platz auf den Booten nach
Europa träumen.

Kairo/Alexandria (dpa) - Im Kairo jenseits des Nils sind die Straßen
sandig und düster. Hochhäuser ragen dicht nebeneinander auf. Sie
öffnen nur einen schmalen Spalt für den smoggrauen Himmel. Und das
Auto, das abrupt im Staub neben Ibrahim hält, bedeutet Gefahr. Der
Flüchtling aus Eritrea ahnt sofort, was die Männer wollen. Er kennt
die Geschichten von Leichen, die Tage später wie Müll am Straßenrand

auftauchen. Ihrer Organe beraubt, ausgeweidet wie erlegte Tiere.

Heute, ein paar Monate später, humpelt der 57-Jährige durch seine
karge Wohnung, die er sich mit drei anderen Männern teilt. Er setzt
sich auf das Bett, übereinandergelegte Matten. Das Gehen schmerzt,
nicht nur wegen seines Alters.

Als die Männer - in Ibrahims Erinnerung nicht mehr als verschwommene
Gestalten - damals aus dem Wagen springen, packen sie ihn an seinem
traditionellen Gewand und reißen es über seinen Kopf. «Ich konnte
nicht atmen», erzählt er.

Sie zerren ihn ins Auto. Kein Wort. Treppen hoch und um Ibrahim wird
es Licht. Er ist in einer Wohnung. Gefesselt an Händen und Füßen.
«Ich sah einen Tisch voller Messer», erinnert er sich. Die Männer,
sie schweigen noch immer. Jeder Handgriff sitzt. Als hätten sie
Routine. Sie legen ihn auf den Tisch und verlassen den Raum.

«Das Einzige, worüber ich in diesem Moment nachgedacht habe, ist der
Tod», sagt der Mann, der seitdem fast jede Nacht von der Entführung
träumt. Neben ihm sieht Ibrahim die Messer blitzen. Bevor sie mich
aufschneiden, denkt er, schneide ich mich los. Er robbt an die Messer
heran und schafft es schließlich, die Fesseln zu durchtrennen.

Ibrahim läuft zum Fenster. Die Männer könnten jeden Moment zurück
kommen. «Ich schaute nicht runter, ich bin einfach gesprungen».

Für die zahllosen Banden in Kairo haben Menschen wie Ibrahim keinen
Wert. Nur ihre Organe, die können sie für gutes Geld verkaufen.
Geschichten wie die des Eritreers gibt es zuhauf. Unabhängig
überprüft werden können sie nicht.

Die Wahrheit ist ein Sumpf in Ägypten. Und das Problem des Landes mit
illegalem Organhandel wird lieber darin ertränkt, als angesprochen.
Diejenigen, die es doch machen, werden gerne als Lügner hingestellt.

Es sind bei weitem nicht nur Straßengangs, die Jagd auf die Nieren
oder Lebern von Mittellosen machen. Ein Geflecht aus Ärzten,
Krankenhäusern und Vermittlern gibt dem Verbrechen ein System. Die
Weltgesundheitsorganisation bezeichnete Ägypten vor einigen Jahren
als eine der Drehscheiben des internationalen Organhandels.

Die Opfer sind oft Migranten, zum Beispiel aus dem Sudan. Die
sudanesische Gemeinschaft in Kairo zählt Hunderttausende Menschen.
Sie hat ihre eigene Subkultur, ihre eigenen Cafés. Hier beginnt das
Verbrechen.

Eines dieser Cafés liegt am Rande des Zentrums im Schatten zweier
Häuserblocks. Unter den Dutzenden Klimaanlagen an den Betonwänden
zerstäuben die Tropfen und nieseln durch den Apfelqualm der
Wasserpfeifen auf die schmutzigen Fliesen und Backgammon-Bretter. Die
Männer auf ihren Plastikstühlen gucken argwöhnisch, wenn man sich
einen Tee bestellt.

Ein ägyptischer Barbesitzer nebenan kommt ins Reden. Viele Sudanesen
hier meinten es nicht gut mit ihren Landsleuten. Sie würden sie erst
zu Getränken einladen, bis sie betrunken seien. «Wenn Sie dann nach
Hause gehen, stehlen sie alles.» Von den Geschäften mit den Organen
ganz zu schweigen, raunt er.

Es war ein solches Café, in das Haidar sich vor einigen Monaten
setzte. Er ist neu in Kairo, seine Familie noch im Sudan, er hat kein
Geld und keine Bleibe. Ein anderer Sudanese setzt sich zu ihm. Ob er
ein Bett brauche? Er habe Platz in seiner Wohnung. Der Mann bietet
noch mehr: 7000 Dollar für Haidars Niere.

Im Kopf des Mitte 30-Jährigen überschlagen sich die Möglichkeiten. So

viel Geld hatte er noch nie. Er denkt ans Meer, an die Boote, die ihn
und seine Familie nach Europa bringen könnten, zu diesem Erdteil, von
dem Haidar so gut wie nichts weiß, mit dem er aber die größten
Hoffnungen verbindet. Er wird einen Teil seines Körpers für die
Chance auf Europa geben.

Es ist «die Saison der Fischer», wie Mohammed Menalla, Leiter der
ägyptischen Flüchtlings-NGO Tadamon, diese Tage im Sommer nennt. Er
meint die Boote vor der Mittelmeerküste, von denen einige ihre
Kammern nicht mit Meeresfrüchten, sondern mit Menschen füllen.
«Einige von ihnen verkaufen ihre Nieren dafür, um auf das Boot nach
Italien zu kommen», sagt Menalla. Die starten vor allem in Libyen.
Die Route über die ägyptische Küste wird nach einem schweren Unglüc
k
mit etwa 200 Toten 2016 strenger kontrolliert.

In der Klinik in einer Satellitenstadt Kairos erwacht Haidar nur
langsam aus der Narkose. Sein Körper ist ein anderer, das fühlt er.
Er ist allein. Wo sein Freund sei, fragt er eine Krankenschwester. In
dem Haus schienen sie ihn alle sehr gut zu kennen. «Der holt dir ein
Taxi, um Dich nach Hause zu bringen», antwortet sie knapp.

Der grob gewobene Pulli des Migranten verdeckt heute eine große Narbe
auf seinem Rücken. «Ich wollte für ein besseres Leben nach Europa
gehen, für eine gute Ausbildung für meine Kinder», erzählt Haidar
Zigarette um Zigarette rauchend, während im Nebenraum der Kairoer
Wohnung sechs Mädchen und Jungen lärmen. Von Europa redet er nachdem,
was er nach der Operation erlebte, nur noch in der
Vergangenheitsform.

«Keiner kann etwas gegen das System tun», sagt Mohammed Menalla nur.
Er kennt die Maschen der Broker, das System aus Ärzten und
Krankenhäusern auswendig. In Ägypten ist es zwar verboten, Organe zu
verkaufen. Unter bestimmten Voraussetzungen ist die Spende aber
erlaubt. Das machen sich die Netzwerke zunutze.

Sogenannte Broker suchen nach willigen Spendern und vermitteln sie an
Krankenhäuser. Die Opfer sind meist zwischen 20 und 40, die
Aussichten auf 5000 bis 7000 Dollar für eine Niere sind realistisch.

Gleichzeitig wenden sich Empfänger - unter ihnen viele wohlhabende
Araber aus dem Golf - an die einschlägigen, teils staatlichen,
Krankenhäuser. Sie geben Zehntausende Euro für eine neue Niere. Auf
dem Papier werden die Deals zurechtgebogen, das Organ wird offiziell
«gespendet» statt verkauft. Den großen Profit machen die Ärzte und

Manager in den Krankenhäusern.

Die Polizei durchsucht zwar gelegentlich Kliniken und nimmt
angebliche Beteiligte fest. Doch auch danach geht das Geschäft
weiter. Jedes Rädchen in der Maschinerie kann ersetzt werden, solange
es den Hintermännern nicht an den Kragen geht, sagen Experten in
Ägypten hinter vorgehaltener Hand.

Karam war ein ganz normaler Fischer, bis auch er mit den großen
Scheinen des Menschenhandels gelockt wurde. Er steht gebückt im
Maschinenraum eines Bootes. Hinter ihm, am Ende der Bucht, glänzt die
weltberühmte Bibliothek von Alexandria in der Sonne. Mit ein paar
Handgriffen bringt er den stotternden Motor zum Laufen.

Die Augustnacht vor zwölf Jahren wird er nie vergessen. Er stand auf
einem kleinen Schiff wie diesem. Stockdunkel war es, das Boot wogte
einen Kilometer vor der Küste im Meer. Die Lichter hatte Karam
ausgeschaltet. Er wartete. Die Boote mit den Menschen kamen um drei
Uhr. «Ich habe gefühlt, dass das, was ich tue, falsch war», sagt er
heute.

Doch das Angebot, was ihm zuvor ein Mann am Telefon gemacht hatte,
war zu gut. Er wollte ihm umgerechnet mehr als 60 000 Euro zahlen,
wenn er 120 Menschen nach Griechenland brächte. Die Passagiere -
unter ihnen Syrer, Ägypter und Menschen aus Bangladesch - kamen ohne
Rettungswesten, nur mit diffusen Träumen. Karam brachte sie auf eine
griechische Insel. Und sich damit fünf Jahre in Haft.

Der Mittelsmann hat ihm die zweite Hälfte des versprochenen Geldes
nie gegeben. «Wenn ich ihn jemals wiedersehe, werde ich ihn
umbringen», sagt Karam und Tränen sammeln sich in seinen Augen.

Aufs Meer, auf eines der Boote, wird Haidar es mit seiner Familie
wohl nie schaffen. Denn das Taxi, das sein Freund nach der Operation
angeblich für ihn rief, kam nicht. Der Sudanese verließ die Klinik
alleine. Er macht sich auf den Weg in das Café, wo der Mann ihn
Monate zuvor angesprochen hatte. Keine Spur von ihm. Auch seine
Wohnung war verschlossen. Der Hausmeister sagte, er sei ausgezogen.

Haidar kann bis heute nicht glauben, wie er sich so in einem Menschen
täuschen konnte. Sie hätten zusammen gegessen, erzählt er, Brot und
Salz. Nachdem man Brot und Salz hatte, so sagt man, kann man einander
vertrauen. Das tat Haidar.

Bis er irgendwann stirbt, wird er nur noch eingeschränkt leben
können. Schwere Arbeit kommt für ihn nicht mehr in Frage. Doch Haidar
sagt: «Wenn ich einen Ventilator im Sommer habe und gutes Essen, wird
es mir gut gehen». Von Europa träumt er nicht mehr. Mehr als eine
Niere kann er nicht geben.