«Wirksam regieren» - wie das Kanzleramt den Bürger erforscht Von Martina Herzog, dpa

Wo hakt es bei der Kfz-Anmeldung? Warum lassen sich nicht mehr
Menschen gegen Masern impfen? Und wie macht sich die Politik dem
Bürger verständlich? Diese Fragen erforschen Wissenschaftler im
Kanzleramt.

Berlin (dpa) - Dass es dafür ein eigenes Team im Kanzleramt braucht,
klingt schon ein wenig sonderbar: «Wirksam regieren» will die
Bundesregierung, und dabei lässt sie sich von vier Wissenschaftlern
helfen. Die untersuchen etwa, wie Bürger vom Sinn der Masernimpfung
zu überzeugen sind oder was Autohalter bei der Kfz-Anmeldung nervt.
Seit zweieinhalb Jahre arbeiten die Experten schon im Kanzleramt. Die
Inspiration lieferte Wirtschaftsnobelpreisträger Richard Thaler und
eine ähnliche Abteilung in Großbritannien - aber in Deutschland setzt
man die Idee doch vergleichsweise vorsichtig um.

Das fängt schon damit an, dass hier niemand von «Nudging» («Stupsen
»)
reden will. Verhaltensökonom Thaler hat den Begriff 2008 in einem
gemeinsamen Buch mit Cass Sunstein zum Thema gemacht («Nudge: Wie man
kluge Entscheidungen anstößt»). Der Staat habe größere Erfolge mi
t
Vorgaben und Vorhaben, wenn die Bürger den Sinn und die eigene
Verantwortung erkennen. Doch Politik durch Anreize gerät leicht unter
Manipulationsverdacht. So redet eine Sprecherin auch lieber von einem
«Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern».

Schon länger dabei ist Großbritannien. Seit 2010 bastelt die
inzwischen teilstaatliche Arbeitsgruppe «Behavioural Insights» (in
etwa: «verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse») an Möglichkeiten,
Bürger in die gewünschte Richtung zu stupsen. Ein Forschungsergebnis
aus dem jüngsten Jahresbericht: Gute Schüler aus benachteiligten
Gegenden bewerben sich eher an einer Top-Universität, wenn sie
ermutigende Briefe von Studenten mit einem ähnlichen Hintergrund
erhalten. Der Brief stupst sie an. Ist so etwas problematisch?

«Es sollte so gestaltet werden, dass die Entscheidungsautonomie der
Bürger gestärkt und nicht geschwächt wird», sagt der
Volkswissenschaftler Jan Schnellenbach von der TU Cottbus über das
Nudging. Zum Beispiel: «Fotos von glücklichen Kindern in
Impfbroschüren wären kein Problem. Das Bild eines Maserntoten schon.»


Bedenklich fände Schnellenbach auch «versteckte Suchkosten» in der
Kantine, wo weniger gesunde Lebensmittel nur schwer auffindbar sind:
«Ich finde plötzlich keine Schokolade und keinen Hamburger mehr.»
Transparenz sei wichtig. Der Staat soll also nicht an psychischen
Schräubchen drehen, die dem Bürger gar nicht bewusst sind. Doch die
Übergänge zwischen sinnvoller Aufklärung und Manipulation sind
fließend. «Die Grenze zur Manipulation ist oft letztlich nicht
objektiv definierbar. Hier muss man sich dann auf sein Bauchgefühl
verlassen», sagt Schnellenbach.

Das Bauchgefühl von Lothar Funk von der Hochschule Düsseldorf
jedenfalls lässt ihn die Sache entspannter sehen. «Das scheint ja im
Prinzip gut zu sein, dass man als Regierung versucht herauszufinden,
was sinnvoll ist für die Bevölkerung», sagt der Ökonom. «Natürl
ich
muss man da wachsam sein, weil Leute, wenn sie manipuliert werden,
sich erst ab einer gewissen Schwelle dagegen wehren», räumt er ein.
Doch die deutsche Öffentlichkeit sei bei dem Thema schon sehr
sensibel. «Die Debatte über mögliche Freiheitsgefahren findet in
Deutschland sehr früh statt.» Vielleicht auch ein bisschen zu früh,
glaubt er.

Für diskussionswürdig hält Funk die österreichische
Organspende-Regelung. Während man sich in Deutschland bewusst für die
Spende und den dazugehörigen Ausweis entscheiden muss, ist die
Organentnahme in Österreich nach dem Tod prinzipiell erlaubt - es sei
denn, man widerspricht zu Lebzeiten ausdrücklich. Im Verhältnis zur
Bevölkerung hat Österreich deutlich mehr Organspender als
Deutschland.

Für manipulativ hält Funk das System nicht: «Es bleibt ja dennoch die

Freiheit, sich dagegen zu entscheiden», meint er. Und weist auf ein
Grundproblem hin: «Es gibt ohnehin keine neutrale Situation.» Für
Kritiker Schnellenbach hingegen ist hier eine Grenze überschritten:
«Damit setzen wir uns sehr stark über die Präferenzen von einzelnen
Leuten hinweg, die das nicht wollen.» Stupsen würde er aber auch -
wer seinen Pass verlängern lässt, müsste sich alle paar Jahre für
oder gegen die Organspende entscheiden, schlägt er vor.

So weitreichende Eingriffe haben die Experten im Kanzleramt wohl gar
nicht im Blick. Sie haben sich bislang mit Kaufentscheidungen bei
Elektrogeräten befasst (Ergebnis: Verbraucher greifen eher zu teuren
Produkten, wenn der Preis auf die Lebensdauer umgerechnet wird) oder
mit neuen Berufsbezeichnungen für unabhängige Anlageberater
(Ergebnis: «Honorarberater» klingt teuer).

«Bei dem, was dazu bisher öffentlich gemacht wurde, sehe ich keine
sehr großen Probleme», sagt Skeptiker Schnellenbach. «Der größte
Teil
dessen, was die Bundesregierung macht, fällt gar nicht unter diesen
Begriff des Nudging.»

Knapp 340 000 Euro haben öffentliche Stellen nach Angaben aus
verschiedenen Ministerien und Landkreisen für solche Projekte
ausgegeben. Ob auch die kommende Bundesregierung «wirksam regieren»
will, und die vier Referenten mit «wissenschaftlichen Hintergründen
in den Bereichen Rechts-, Sozial-, und Bildungswissenschaften sowie
Ökonomie und Psychologie» weiterbeschäftigt, ist unklar. «Ein Fazit

zur Arbeit der Projektgruppe und zur Frage der Fortführung wird zu
gegebener Zeit gezogen», erklärt eine Regierungssprecherin auf
Anfrage knapp.

Beim Thema Verständlichkeit scheint indes noch ein wenig Luft nach
oben zu sein. «Laut Befragungen der Bundesregierung zur Zufriedenheit
mit behördlichen Dienstleistungen zählt die Verständlichkeit des
Rechts oft zu den Aspekten, mit denen Bürgerinnen und Bürger weniger
zufrieden sind», heißt es auf der Internetseite der Bundesregierung
in schönstem Behördendeutsch.