Wachsleichen auf Friedhöfen - Viele Tote verwesen nicht vollständig Von Jens Albes, dpa

Viele Friedhöfe kämpfen mit einem Problem: Ihre Toten zersetzen sich
zu langsam. Nach Ablauf der Ruhefrist finden sich immer noch
Überreste. Was tun? Eine Tagung sucht nach Lösungen.

Bonn (dpa) - Mitarbeiter von Friedhöfen machen manchmal grausige
Funde: Sie heben neue Gräber aus - und stoßen auf früher beerdigte
Tote, die nur teilweise verwest sind. Viele Leichen auf Deutschlands
32 000 traditionellen Friedhöfen zersetzen sich während der 15- bis
35-jährigen Ruhezeit nicht vollständig. «Das Problem mit den
sogenannten Wachsleichen nimmt zu. Es gibt kaum noch einen Friedhof
in Deutschland, der nicht zumindest mit Teilflächen davon betroffen
ist», sagt der Bonner Biorechtsexperte Tade Spranger.

«Das Problem sind vor allem zu feuchte und lehmige Böden. Sie
konservieren Leichen so, dass noch nach Jahren die Gesichtszüge zu
erkennen sind», ergänzt der Juraprofessor. Der baden-württembergische

frühere Bestatter und Publizist Peter Wilhelm erklärt: «Die Hautfette

des Verstorbenen wandeln sich in Leichenlipide (Leichenwachs) um, die
sich im Gewebe einlagern. Es entsteht eine weiße, krümelige, an Wachs
erinnernde Substanz auf der Haut der Leiche, die die weitere
Verwesung unter Umständen vollständig verhindert.»

Laut Spranger werden auch vom Verwesen ermüdete Erde,
Kunstfaserkleidung und Antibiotika sowie undurchlässige moderne Särge
für die zunehmende Zahl von Wachsleichen verantwortlich gemacht.
Michael Albrecht vom Verband der Friedhofsverwalter Deutschlands in
Hannover allerdings geht nicht von einem Anstieg der Fälle aus. «Es
gibt dafür keine Statistiken», sagt der Sachverständige für
Friedhofsbodenkunde.

An diesem Dienstag (14.11.) ist an der Universität Bonn eine
Fachtagung zum Thema Wachsleichen geplant. Dabei geht es um die
Folgen für Friedhöfe - und um ethische, theologische, bodenkundliche
und rechtliche Aspekte.

Wachsleichen sind vielerorts ein Tabu. Der frühere Bestatter Wilhelm
erklärt: «Man will in diesem ohnehin gefühlsbeladenen Bereich nicht
auch noch die Hinterbliebenen schocken und mit solchen Botschaften
konfrontieren.» Der Frankfurter Kommunikationsberater Willi Brandt
verweist auch auf die psychische Belastung von Friedhofsmitarbeitern.
Kommunen sollten offen mit dem Problem umgehen. «Denn das schlimmste
Szenario wäre für Angehörige, zufällig in sozialen Medien ein
Handyfoto von der Oma als Wachsleiche zu sehen», ergänzt Brandt, der
auch Sprecher von Deutschlands größtem privaten Krematorium in
Dachsenhausen im Taunus ist.

Der Leiter der Abteilung Friedhofsangelegenheiten in Frankfurt am
Main, Thomas Bäder, sagt zum Problem mit Wachsleichen: «Bei
entsprechenden Bodenverhältnissen kann das überall vorkommen.» Auf
den Friedhöfen in den Stadtteilen Rödelheim, Bergen und Enkheim sei
deshalb die Ruhefrist von 20 auf 35 Jahre erhöht worden.

Die Stadt Koblenz hat nach eigenen Angaben nur auf ihrem Friedhof
Ehrenbreitstein auf wasserreichem Gelände am Hang mit dem Problem zu
kämpfen. Auch hier sei die Ruhezeit verlängert worden - von 20 auf 25
Jahre. Zudem sei nun die «Ganzabdeckung» von Gräbern mit Bodenplatten

verboten.

Brancheninsider berichten anonym auch von rabiaten Methoden: Manche
Baggerfahrer würden vor dem Zuschaufeln eines frischen Grabes mit der
Schaufel den Sarg zertrümmern, um Mikroorganismen für die Verwesung
den Zugang zu erleichtern. Beim Fund von Wachsleichen nach Ablauf der
Ruhefrist ließen manche Friedhöfe sie pietätvoll einäschern - wäh
rend
andere sie einfach entsorgten.

Der Sachverständige Albrecht sagt zu betroffenen Friedhöfen: «Es gibt

verschiedene Sanierungsverfahren auf dem Markt, aber es ist nicht
immer klar, was das bringen soll.» Besser sei es, Wachsleichen bei
ausreichendem Platz auf anderen Friedhofsflächen mit mehr Luftzufuhr
verwesen zu lassen. Doch das dauere. «Ein Verfahren in wenigen Wochen
mit einer geheimnisvollen Substanz gibt es nicht.» Da Sanierungen von
Friedhofsflächen und Behandlungen von Wachsleichen Geld kosteten, so
der Biorechtsexperte Spranger, «werden betroffene Grabstätten oftmals
schlicht wieder zugemacht - mit der Folge, dass eine echte
Problemlösung vertagt wird».

Albrecht fordert für eine raschere Verwesung ein Umdenken, ein
«flacheres» Beisetzen von Leichen. «Ganz früher hieß es wegen der

Seuchengefahr: «Je tiefer desto besser.» Noch heute schreiben manche
Friedhofssatzungen eine Beisetzung in mindestens 1,90 oder 2 Meter
Tiefe vor.» Der Juraprofessor Spranger erläutert, dass es sogar
rechtswidrig sein könne, wenn auf gebührenpflichtigen Friedhöfen
wissentlich bei zu viel Grundwasser beerdigt werde. «Dann kann eine
untaugliche Leistung verkauft werden.»

Es gibt auch banale Tipps für Angehörige. Iris Zimmermann vom Kieler
Uni-Institut für Pflanzenernährung und Bodenkunde rät, den
aufgeschütteten Boden nach einem Begräbnis nicht festzutreten.
Angehörige sollten tiefwurzelnde Sträucher und Stauden pflanzen, weil
sie dem Boden mehr Wasser entzögen. Und sie sollten nicht zu viel
gießen.

Was bringt die Zukunft? Der Leiter der Abteilung
Friedhofsangelegenheiten in Frankfurt, Bäder, betont: «Die
Problematik der Wachsleichen wird sich auf längere Sicht immer
seltener ergeben, weil die Tendenz zur Urne geht.» Nach
Branchenschätzungen wird bereits bei fast zwei Dritteln der jährlich
rund 925 000 Verstorbenen in Deutschland eine preiswertere
Einäscherung gewählt. 2011 sollen es noch 55 Prozent gewesen sein.
Auch in den nächsten Jahren rechnet der Bundesverband Deutscher
Bestatter mit einem Anstieg. Asche kann sich nicht in eine
Wachsleiche verwandeln.