Unerkannt oder unterschätzt: Die neuen Tücken von Diabetes Von Ulrike von Leszczynski, dpa

Diabetes ist eine Volkskrankheit geworden. Dass sie schmerzhafte
Einschnitte in die Lebensqualität bedeuten kann, wissen aber längst
nicht alle. Und so manchem Klischee erliegen sogar Ärzte.

Berlin (dpa) - Dick und Diabetes - diese Gleichung stimmt oft, und
doch kann das Klischee in die Irre führen. «Nicht jeder Dicke wird
zuckerkrank und nicht jeder Schlanke ist davor geschützt», sagt
Norbert Stefan, Diabetesforscher am Uni-Klinikum Tübingen. Stereotype
führen für ihn dazu, dass die Krankheit und vor allem ihre Vorstufen
in Deutschland oft unentdeckt und unterschätzt bleiben. «Das ist wie
ein Tsunami unter der Wasseroberfläche. Und ohne frühes Gegensteuern
trifft er auf Land», so Stefan.

Diabetes mellitus ist eine Stoffwechselerkrankung, bei der die
Regulierung des Blutzuckerspiegels gestört ist. Nur bei rund
300 000 Menschen in Deutschland ist eine angeborene
Autoimmunkrankheit (Typ 1) Ursache für die diagnostizierten Fälle.
Bei mehr als sechs Millionen Menschen ist dagegen ein Wechselspiel
aus Fehlernährung, Bewegungsmangel und genetischen Anlagen der Grund
für erkannte Erkrankungen (Typ 2). Jedes Jahr kommen in Deutschland
rund 300 000 Typ-2-Diagnosen dazu, inzwischen im Extremfall schon bei
Kindern.

Wissenschaftler gehen aber davon aus, dass weitere zwei Millionen
Menschen unter Diabetes leiden, ohne davon zu wissen. Die Zahl der
Vorstufen der Krankheit schätzt Forscher und Arzt Stefan auf noch
einmal 20 Prozent - das wären rund 16 Millionen Menschen in
Deutschland. Belegen kann er das nicht. Es sind Hochrechnungen, die
sich an Statistiken in den USA orientieren. «Prädiabetes ist bei uns
nicht als Krankheit anerkannt, ist also gar nicht auf der Agenda»,
sagt Stefan. Und doch erhöhe die Vorstufe innerhalb von etwa fünf
Jahren deutlich das Risiko für die Schwelle zum echten Diabetes.

Für Vorstufen gibt es messbare Signale wie zu hohe Blutzucker-,
Blutfett- und Blutdruckwerte. «Aber auch Ärzte erliegen dem
Diabetes-Klischee», sagt Stefan. «Bei schlanken Patienten tippen sie
meist nicht auf die Zuckerkrankheit.» Dabei würden erbliche Faktoren
und auch die ethnische Zugehörigkeit unterschätzt.

«Wer zum Beispiel eine lange Nomadengeschichte in seinen Genen trägt,
hat wahrscheinlich heute noch einen natürlich erhöhten
Blutzuckerwert», sagt Stefan. Das habe damit zu tun, dass Nomaden
Hungerzeiten nur überlebten, wenn ihre Körper schnell Energie
freisetzen konnten. «Für Menschen mit dieser genetischen Anlage ist
eine Überernährung bereits im Bereich des Normalgewichts ein hohes
Diabetes-Risiko», sagt er. Da reiche schon ein dauerhafter
Fastfood-Konsum.

In einer multiethnischen Gesellschaft müssten Hausärzte das
berücksichtigen - zum Beispiel bei Menschen aus Nordafrika, Asien
oder Polynesien. Und auch bei Kindern. Rund jedes siebte Kind in
Deutschland gilt schon als zu dick, sechs Prozent sind bereits
krankhaft übergewichtig. Und viele von ihnen stammen aus
Migrantenfamilien.

Ihre Eltern ahnen oft kaum, welchem Risiko sie ihre Kinder mit viel
zu fetter und süßer Ernährung aussetzen. Diabetes bedeutet nicht nur

Tabletten oder Insulinspritzen. Zu den Langzeitfolgen können
gravierende Folgeerkrankungen wie Schlaganfall, Herzinfarkt,
Netzhauterkrankungen bis hin zu Erblindung, Nierenversagen und
Amputationen gehören. Wer als Kind erkrankt, kann diese Folgen nicht
erst im Seniorenalter zu spüren bekommen, sondern schon mit 40.

«Diabetes wird generell immer noch zu spät erkannt», sagt Andreas
Pfeiffer, Experte an der Berliner Charité. Dabei lasse sich die
Vorstufe relativ leicht wieder loswerden. «Fünf Kilo abnehmen, eine
halbe Stunde pro Tag körperlich aktiv sein und sich einigermaßen
gesund ernähren - damit lässt sich das Risiko um 80 bis 90 Prozent
senken», ergänzt Pfeiffer. «Aber Diabetes merkt man nicht, der tut
nicht weh.»

Zu ungesunder Ernährung kommen acht dominant erbliche Diabetesformen,
die auch schlanke Menschen mit ganz bestimmten Genmutationen treffen
können. «Das kann man auch für Kassenpatienten analysieren lassen»,

sagt Pfeiffer. «Die Zukunft werden Marker sein. In fünf bis zehn
Jahren machen wir das als Routinediagnostik für das ganze Genom.» Im
Moment kennen Forscher rund 100 Gene, die das Diabetesrisiko erhöhen.

Ob nun dick oder dünn - Forscher Norbert Stefan würde sich für jeden

Menschen einmal im Jahr einen Blutzuckertest wünschen. Und wenn es
dann Auffälligkeiten gibt, weitere Checks auf Diabetes oder Vorstufen
davon.

«Viele Leute sind motiviert zum Abnehmen, wenn sie mit 45 Diabetes
haben», sagt sein Kollege Pfeiffer. «Wenn sie 10 bis 15 Kilo
schaffen, kann der Diabetes dauerhaft weg sein. Aber nur, wenn sie
das Gewicht halten. Das ist aber schwer.» Generell dächten die
meisten Menschen beim Thema Abnehmen eher an eine gute Bikini- oder
Badehosen-Figur. «Da stehen Schönheitsaspekte im Vordergrund, nicht
die Gesundheit als Motivation», bedauert Pfeiffer.