«Wenn meine Beine besser wären...» - Hilfe in der Alltagspflege Von Ruppert Mayr, dpa

Ambulant vor stationär - Pflegebedürftige sollen möglichst lange
selbstständig bleiben. Das wird angesichts der alternden Gesellschaft
immer wichtiger. Der Pflegemarkt stellt sich gerade darauf ein.

Berlin (dpa) - Frau Groll* wohnt im vierten Stock ohne Fahrstuhl. Sie
ist eine sehr angenehme und auch witzige ältere Dame. Frau Groll ist
89 und seit einem Sturz vor viereinhalb Jahren an den Rollstuhl
gebunden. «Im Januar 2014 war alles vorbei. Da musste ich dann
anfangen mit dem ambulanten Pflegedienst», sagt sie. Frau Groll hat
heute Pflegegrad 3.

Seit mehr als 40 Jahren sei sie mit einer türkischen Familie eng
befreundet. Von den drei Schwestern kommt eine regelmäßig und kauft
ihr ein oder hilft beim Duschen. Frau Groll ist alleinstehend, hat
keine Kinder. «Das ist meine Familie», sagt die Berlinerin.

Mit dem ambulanten Pflegedienst sei sie unzufrieden gewesen «mit dem
Saubermachen», sagt Frau Groll. Männer könnten das eh nicht so gut
und dann «sind sie auch immer eilig und haben ja auch nur eine Stunde
Zeit».

Deshalb kommt zudem jetzt montags Frau Kramer*, um den Haushalt zu
versorgen. Und jeden zweiten Donnerstag kommt sie zum Einkaufen, zum
Unterhalten und Tee trinken. «Sie wäscht dann auch ab.» Manchmal
hänge sie Wäsche auf oder nehme sie ab und räume sie ein. «Waschen

tu' ich selber», sagt Frau Groll. 

Frau Kramer ist Anfang 50. Sie ist keine Pflegefachkraft, sie hat
eine hauswirtschaftliche Ausbildung gemacht. Aber sie hat Erfahrung
in der Betreuung pflegebedürftiger Menschen. «Ich habe ja zwei
ambulante Pflegestellen,» sagt Frau Groll: den herkömmlichen
Pflegedienst durch Pflegefachkräfte und dann Frau Kramer. «Und da bin
ich sehr froh drüber.»

Nach Angaben des Statistischen Bundesamts (2015) werden von den 2,9
Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland knapp 2,1 Millionen, also
fast drei Viertel, zu Hause betreut, gut 780 000 in Heimen. Zu Hause
werden 1,38 Millionen von Angehörigen gepflegt, und rund 700 000
durch ambulante Pflegedienste. Es gibt 13 300 ambulante Pflegedienste
mit knapp 356 000 Beschäftigten und 13 600 Heime mit 730 000
Beschäftigten. 

Unter den ambulanten Pflegediensten sind solche, die Menschen im
Alltag wie im Fall von Frau Groll und Frau Kramer betreuen, noch
relativ wenig vertreten. Aber grade bei dieser niedrigschwelligen
Betreuung sehen die Pflegekassen einen großen Bedarf.

Insbesondere bei den Menschen, die zum Jahreswechsel mit der neuen
Einstufung von Pflegebedürftigkeit in den Pflegegrad 1 kamen, sind
solche Betreuungsdienste eine interessante Alternative oder eine
Ergänzung zu einer herkömmlichen ambulanten oder teilstationären
Pflege, sagte der Geschäftsführer des Medizinischen Dienstes des
GKV-Spitzenverbandes (MDS), Peter Pick, der dpa.

Der MDS rechnet damit, dass 2017 zusätzlich rund 200 000 Bedürftige
erstmals Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten.
Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) geht mittelfristig sogar von
zusätzlich 500 000 Leistungsempfängern aus.

Nach dem Sozialgesetzbuch steht allen Pflegebedürftigen aller fünf
Pflegegrade (Paragraph 45b SGB XI) ein Entlastungsbetrag von bis zu
125 Euro im Monat zu. Diesen nimmt Frau Groll heute für Frau Kramer
in Anspruch. Sie bezahlt ihn zunächst an ihren Betreuungsdienst, in
diesem Fall heißt er HomeInstead (etwa: Besser Zuhause), und bekommt
ihn dann von der Pflegekasse erstattet.

Beispiele für niedrigschwellige Entlastungsangebote sind stundenweise
Betreuung, Unterstützung bei sozialen Kontakten, Unterstützung im
Haushalt, Begleitung zu Aktivitäten außerhalb der Wohnung wie Einkauf
oder Kinobesuch. «Leider sind Leistungen wie die Unterstützung im
Alltag noch zu wenig bekannt. Das muss sich ändern. Versicherte und
Pflegebedürftige sollten sich gezielt und direkt an ihre Pflegekassen
wenden», sagt der Vorstand des Spitzenverbandes der Gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV), Gernot Kiefer, der dpa.

Die Anbieter solcher Entlastungsangebote müssen nach Landesrecht
anerkannt sein. «Wir verstehen uns nicht als klassischer
Pflegedienst, sondern mit Fokus auf stundenweise Betreuungs- und
Entlastungsleistung», sagt Jörg Veil, Chef eines dieser ambulanten
Pflegedienste mit niedrigschwelligen Betreuungsangeboten und auch
Verbandschef. «Der Anteil, den wir mit Sozialhilfeträgern abrechnen
und insbesondere mit den Pflegekassen, manchmal aber auch mit den
Sozialämtern oder anderen Trägern, liegt durchaus bei 70 bis 80
Prozent in den Betrieben. Reine Privatkunden sind ganz, ganz wenige,
private Zuzahlungen haben wir schon häufiger.»

Beim GKV-Spitzenverband heißt es, Zahlen zum Markt von Anbietern, die
Unterstützung beziehungsweise Hilfe im Alltag anbieten, gebe es
nicht. Die bundesweit tätigen Unternehmen der HomeInstead-Gruppe,
eine Geschäftsidee aus den USA, die in Lizenz in Deutschland vergeben
wird, machen in diesem Jahr mehr als 40 Millionen Euro Umsatz. Im
vergangenen Jahr seien es noch 20 Millionen Euro gewesen, sagt Veil.
Daran sei zu sehen, «wie stark wir aktuell wachsen». Denn «der Markt

und der Bedarf ist da. Wir werden da auch gut angenommen.»

Frau Groll würde gerne mal wieder eine Oper oder ein Museum besuchen.
Doch das ist nicht so einfach. Sie müsse sich die vier Stockwerke von
einer Krankentransportfirma runtertragen lassen und einen Rollstuhl
vom Roten Kreuz leihen. Runter- und anschließend Rauftragen koste 100
Euro. Das ist dann nicht mehr so oft drin. Aber: «Einmal im Monat
will ich mir das ans Bein binden.»