Die Würde des Menschen wird in der Pflege täglich angetastet Von Ruppert Mayr, dpa

Im Artikel 1 des Grundgesetzes heißt es: «Die Würde des Menschen ist

unantastbar.» Doch das Leben spricht oft eine andere Sprache. Es gibt
wohl in keinem Bereich so viele Verstöße gegen Artikel 1 wie in der
Pflege, sagen Patientenschützer.

Berlin (dpa) - Die Würde des Menschen in deutschen Krankenhäusern und
Altenheimen werde «tagtäglich ... tausendfach verletzt». Alexander
Jorde, der gerade eine Ausbildung zum Krankenpfleger macht, legte am
Montagabend in der ARD-«Wahlarena» mit Bundeskanzlerin Angela Merkel
(CDU) den Finger in die Wunde. «Es gibt Menschen, die liegen
stundenlang in ihren Ausscheidungen.» Dieser Zustand sei nicht
haltbar. Tut der Staat genug gegen den Pflegenotstand?

Gibt es einen besonderen Schutz für Pflegebedürftige?

Ja, Pflegebedürftige genießen einen besonderen Schutz. Da sich
Patienten oft nicht wehren können, gilt in der Pflege ein
«erweiterter Gewaltbegriff». Es geht hier nicht nur um aktive oder
gar kriminelle Gewalt, sondern es geht auch um Gewalt durch
Vernachlässigung, durch seelische Verletzungen oder durch Eingriffe
in die Intimsphäre bis hin zu sexuellen Übergriffen.

Wo sind die Probleme in der Pflege?

Im Krankenhaus wurde über Jahre bei der sogenannten Pflege am Bett
gespart, im Gegenzug wurde die Zahl der Ärzte erhöht, wie unter
anderem Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz immer
wieder beklagt. Bei der wenig lukrativen Pflege am Bett werden die
Patienten bei einfachen Angelegenheiten wie Körperpflege oder
Toilettengang unterstützt.

Allerdings können durch die Vernachlässigung der Pflege am Bett viele
Folgekrankheiten entstehen, vor allem das Wundliegen (Dekubitus). Das
treibt dann wiederum die Behandlungskosten in die Höhe.

Personalmangel und hoher Zeitdruck ist auch ein wesentlicher Grund
für mangelnde Hygiene, etwa bei der Händedesinfektion. Dies kann zu
Krankenhausinfektionen und damit letztlich zu den gefürchteten
Keimresistenzen führen, gegen die kaum ein Antibiotikum mehr hilft.

Zu wenig Personal und zu wenig Zeit führt zu Vernachlässigung in den
Pflegeheimen. Gerade ältere Menschen brauchen aber mehr
Aufmerksamkeit - etwa beim Essen anreichen, beim Anziehen oder beim
Gehen. Und die Situation dürfte sich verschärfen. Derzeit sind 2,8
Millionen Menschen auf ambulante und stationäre Pflege angewiesen.
Bis 2030 könnte sich die Zahl um knapp eine weitere Million auf rund
3,6 Millionen Menschen erhöhen.

Kommt der Staat seinem Schutzauftrag nach Artikel 1 nach?

Er versucht es zumindest. Kanzlerin Merkel verwies auf die drei
Pflegereformen von Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) in dieser
Legislaturperiode. Durch die Gleichbehandlung von Demenz mit
körperlichen Behinderungen und eine genauere Einstufung der
Pflegebedürftigkeit schaffen diese Reformen Verbesserungen für mehr
betroffene Menschen. Zudem wurden die Pflegebeiträge von 2,05 auf
2,55 Prozent vom Bruttogehalt angehoben. Doch die Pflegeversicherung
ist nur eine Teilkaskoversicherung. Sie zahlt nicht alles.

Zudem stellt der Bund über das Krankenhausstrukturgesetz für die
Pflege am Bett in den nächsten Jahren zusätzliche Milliarden zur
Verfügung. Gröhe verpflichtete auch die Krankenhäuser, einen
Mindestpersonalschlüssel für die Pflege festzulegen. Doch das Geld
nützt nichts, wenn das Pflegepersonal fehlt. Das «alternde
Deutschland» braucht in den nächsten 10 bis 20 Jahren pro Jahr
zusätzlich etwa 20 000 Pflegekräfte.

Was tut der Staat gegen den Pflegenotstand?

Die Bundesregierung hat durch eine Reform der Pflegeausbildung
versucht, die Pflegeberufe attraktiver zu machen. Die
Vereinheitlichung der Ausbildung in den ersten beiden Jahren soll vor
allem für bessere Einkommen in der Altenpflege sorgen. Die Wirkung
muss sich aber in den kommenden Jahren erst noch zeigen.

Gröhe beklagte jetzt in der «Rheinischen Post» (Dienstag) große
Lohnunterschiede und zu niedrige Löhne in der Altenpflege. Es sei
auffällig, dass in Baden-Württemberg und Bayern eine Altenpflegekraft
im Schnitt 2900 Euro im Monat verdiene, während sie in Sachsen-Anhalt
nicht einmal auf 2000 Euro komme. «Wir werden den Dienst am Menschen
besser vergüten müssen: Altenpfleger müssen mehr verdienen.»

Zudem gibt es Programme der Bundesregierung, Pflegekräfte aus Europa,
aber auch aus Übersee wie den Philippinen anzuwerben. Die Erfolge der
schon seit einigen Jahren laufenden Programme sind aber eher gering.
Es hapert oft an der Sprache - und am Heimweh.

Reicht das?

Ganz offensichtlich nicht. Dass es besser geht, zeigt ein
internationaler Vergleich von 2012 («aerzteblatt.de»): Demnach kommen
in den USA durchschnittlich 5,3 Patienten auf eine Pflegefachkraft,
in den Niederlanden sind es sieben Patienten, in Schweden 7,7, in der
Schweiz 7,9 und in Deutschland sind es 13 Patienten pro
Pflegefachkraft.