Eltern von Baby Charlie: «Wir konnten dich nicht retten» Von Silvia Kusidlo, dpa

Fünf Monate lang kämpfen die Eltern vor Gericht um das Schicksal ihre
schwerkranken Sohns Charlie. Jetzt geben sie auf. Zugleich klagen sie
die Ärzte an: Es sei nun zu spät, ihr Baby zu behandeln.

London (dpa) - «Wir wollten ihm doch nur eine Chance auf Leben
geben.» Die Mutter des todkranken Charlie Gard weint in einem
Londoner Gericht. «Es tut uns so leid, dass wir dich nicht retten
konnten.» So viel Zeit sei verschwendet worden. Etwa fünf Monate lang
hatte sie gemeinsam mit ihrem Mann vor mehreren Gerichten um das
Schicksal ihres Babys gekämpft. Am Montag dann die überraschende
Wende: Die Eltern geben den juristischen Streit auf.

«Unser Sohn musste monatelang im Krankenhaus ohne Behandlung liegen»,
sagt der Vater schluchzend nach dem Termin im High Court. «Charlie
ist ein Kämpfer.» Die jüngsten Untersuchungsergebnisse hätten jedoc
h
gezeigt: Es sei es zu spät, Charlie zu behandeln. Sein Gehirn weise
schwerste, irreparable Schäden auf. Wütende Unterstützer der Eltern
beschimpfen nach der Erklärung der Eltern vor dem Gericht die Justiz
und Charlies behandelnde Ärzte: «Schämt euch!».

Der Anwalt der Eltern vergleicht das Schicksal des elf Monate alten
Kindes mit einer griechischen Tragödie. Papst Franziskus hatte zuvor
für die Eltern gebetet und US-Präsident Donald Trump auf Twitter
geschrieben: «Wenn wir dem kleinen Charlie Gard helfen können, (...)
würden wir uns sehr freuen, das zu tun.» Doch was vielen Kritikern
als herzloses Handeln von Ärzten und Juristen erscheint, ist in
Wirklichkeit - medizinisch und ethisch - komplizierter.

Charlies Krankheit, das mitochondriale DNA-Depletionssyndrom (MDDS),
ist sehr selten. Sie wird von einem Fehler in einem Gen verursacht.
Dadurch leidet die Funktion der Kraftwerke der Zellen, der
Mitochondrien. Sie produzieren weniger Energie, die der Körper aber
dringend braucht. Charlies Erkrankung, bei der das Gen RRM2B
betroffen ist, wurde erst vor rund zehn Jahren erstmals beschrieben.

Die Folge der schweren Krankheit: Der Kleine hat nach Angaben seiner
Ärzte keine normale Hirnfunktion mehr. Die Muskeln sind stark
geschwächt; Charlie kann sich nicht bewegen. Er muss künstlich
beatmet und ernährt werden, ist gehörlos und hat epileptische
Störungen. Um Charlie Leid zu ersparen, wollten seine Ärzte im
Londoner Great-Ormond-Street-Krankenhaus auf weitere
lebensverlängernde Maßnahmen verzichten. Er sollte in Würde sterben.


Die Eltern wollten ihren Sohn aber so lange wie möglich und begleiten
und setzten große Hoffnungen auf eine experimentelle Therapie in den
USA. Sie hatten dafür rund 1,5 Millionen Euro an Spenden gesammelt,
um den Krankentransport und die Behandlung finanzieren zu können.
Allerdings: Die Behandlung hätte Charlie nicht heilen können. Die
Aussicht auf ein bisschen Besserung seines Leidens schätzte ein
Experte von der Columbia University in New York auf nur zehn Prozent.

Ein weiteres Problem: Noch nie ist die Therapie im Tierversuch oder
bei Menschen angewandt worden, die ebenso wie Charlie eine
RRM2B-Genmutation hatten. Es wurden aber schon Patienten behandelt,
die einen ähnlichen Gendefekt mit milderen Verläufen haben.

Markus Schülke von der Berliner Charité, der über angeborene
Entwicklungsstörungen des Nervensystems forscht, zeigt sich mit Blick
auf die Lebenserwartung von Kindern wie Charlie wenig optimistisch.
«Wenn erst einmal eine Schädigung des Gehirns eingetreten ist, ist es
extrem unwahrscheinlich, dass es sich erholt», sagte er der Deutschen
Presse-Agentur. Das gelte auch im unwahrscheinlichen Fall einer
erfolgreichen experimentellen Therapie.

Den Hass vieler Kritiker auf die behandelnden Ärzte in London dürfte
das nicht besänftigen. Das Great-Ormond-Street-Krankenhaus klagte
zuletzt über Belästigungen und sogar Morddrohungen durch Unterstützer

der Eltern gegen Ärzte und Krankenschwestern. Davon distanzieren sich
Charlies Eltern am Montag aber eindeutig: Sie duldeten weder
Drohungen noch beleidigende Bemerkungen.