«Raus aus der Tristesse» - Wie Japan mit Demenz-Patienten umgeht Von Lars Nicolaysen, dpa

Für Japan und Deutschland ist es eine der größten Herausforderungen:

Die Überalterung der Gesellschaft. Immer mehr Menschen erkranken in
beiden Ländern an Demenz. In Japan fordern Experten ein Umdenken.
Neue Projekte sollen das Leben der Betroffenen verbessern.

Yokohama (dpa) - Wenn Motomichi Tomioka morgens aufwacht, denkt der
84 Jahre alte Japaner an Las Vegas. Nicht das Spieler-Paradies im
fernen Amerika. Tomiokas Las Vegas ist eine Tagesbetreuungsstätte für
Demenz-Patienten und andere pflegebedürftige Alte im japanischen
Yokohama - eingerichtet wie ein Kasino. Hier spielen die Senioren bei
Baccara und Mahjong um Fantasiegeld und sollen sich so - betreut von
Pflegekräften - geistig rege halten.

Ähnlich wie in Deutschland altert auch Japans Gesellschaft, sogar
noch schneller. Millionen Menschen sind bereits an Demenz erkrankt,
Tendenz steigend. Kreative Ideen wie das Las Vegas lohnen ein Blick
auf das fernöstliche Land.

«In herkömmlichen Altentagesstätten in Japan sieht es meist eher
deprimierend aus», erzählt der Betreiber des Las Vegas, Kaoru Mori.
Der Japaner arbeitete früher selbst in solchen Einrichtungen - und
bekam Mitleid. Manche Demenz-Patienten und andere Senioren empfänden
die Betreuungsprogramme dort als eintönig und frustrierend, erzählt
er, während im Hintergrund Senioren an lärmenden Automaten spielen.
Sie wollten nicht immer nur Papierfiguren falten oder Schablonen
ausmalen. Um die Menschen aus ihrer Tristesse herauszuholen, kam Mori
nach einem Besuch im amerikanischen Las Vegas auf den Einfall mit der
Kasino-Attrappe.

Moris Tagesstätte ist ein ungewöhnlicher Versuch, mit einem Problem
umzugehen, das der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt mit rund 126
Millionen Einwohnern zunehmend Kopfschmerzen bereitet: Bereits fünf
Millionen Japaner sind an Demenz erkrankt. Das ist ein Anteil an der
Bevölkerung über 65 Jahren von rund 15 Prozent. In Deutschland,
dessen Bevölkerung ebenfalls schnell altert, leben nach Angaben der
Deutschen Alzheimer Gesellschaft gegenwärtig 1,6 Millionen
Demenzkranke. Der Anteil an den über 65-Jährigen liegt hier bei neun
Prozent. Jahr für Jahr erkranken etwa 300 000 Menschen neu.

In Japan wird schon 2025, wenn sieben Millionen Menschen über 75
Jahre alt sein werden, Schätzungen zufolge jeder fünfte Bürger über

65 Jahren Demenz haben. Doch anders als in Deutschland werden in
Japan Demenz-Patienten oft in Krankenhäusern untergebracht. «Diese
Tendenz muss sich dringend ändern», fordert Masaki Muto von der
International University of Health and Welfare Graduate School in
Tokio im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.

Vor einigen Jahrzehnten seien auch in Deutschland Demenz-Patienten
noch als quasi chronisch Kranke oft in Krankenhäusern untergebracht
worden, erklärt Susanna Saxl von der Deutschen Alzheimer
Gesellschaft. «Das gibt es heute nicht mehr.» Heute versuche man, «so

viel wie möglich die Menschen und ihre Familien darin zu
unterstützen, dass sie möglichst lange zu Hause bleiben können».

Das wünscht sich Experte Muto auch für sein Land. Zwar hat die
Regierung in Tokio vor zwei Jahren eine neue Strategie verkündet, die
mehr Unterstützung für Demenz-Patienten und ihre Familien vorsieht.
«Aber bisher ist sie wenig wirksam», beklagt er.

Ein großes Problem in Japan sei, dass Menschen, die zu Hause ihre
alten Eltern pflegen, oft den Job kündigen müssten. Das Gesetz sehe
zwar Pflegeurlaub vor, «aber es wird nicht überall konsequent
durchgesetzt», erklärt Muto. Gerade kleine und mittlere Unternehmen,
die das Gros der Arbeitnehmer in Japan beschäftigen, könnten es sich
nicht leisten, dass Angestellte Pflegeurlaub nehmen.

Um die Lage der Betroffenen zu verbessern, entstehen in Japan immer
wieder kreative Projekte. So richtete ein Fernsehmanager in Tokio
kürzlich für drei Tage ein Lokal ein, in dem versuchsweise an Demenz
erkrankte Frauen als Kellnerinnen arbeiteten. Das Lokal bekam den
Namen «das Restaurant mit Bestellungs-Irrtümern» - eine amüsante
Andeutung, dass die Kellnerinnen auch mal Bestellungen vergessen und
etwas anderes servieren könnten. Der Betreiber überlegt laut
Medienberichten, das Projekt im Herbst noch einmal aufzulegen.

Nicht ganz unumstritten ist dagegen ein Einfall der Stadtverwaltung
von Iruma nahe Tokio: kostenlose, ein Zentimeter große Aufkleber mit
einem QR-Code, den Demenz-Patienten auf dem Fingernagel tragen
können. Der Code enthalte die Anschrift und Telefonnummer der
Ortsverwaltung sowie eine Identifizierungsnummr, die die Stadt
vergibt, wie die Verwaltung auf ihrer Internetseite mitteilt.
Wahlweise gebe es das auch als Anhänger oder Schuhaufkleber.
Hintergrund der Initiative ist, dass in drei Jahren in Japan rund
10 000 Demenz-Patienten vermisst wurden. Sie verirrten sich offenbar.

Diese Sorge hat Las Vegas-Betreiber Mori nicht. «Von den Angehörigen
hören wir, dass sich das Fortschreiten der Demenz bei unseren
Besuchern verlangsamt», weiß er zu berichten. Auch der 84-jährige
Tomioka kommt zwei Mal pro Woche. Der frühere Elektroniker besucht
noch eine andere Betreuungsstätte. «Aber eigentlich mag ich es hier
viel lieber», sagt der Senior strahlend.