«Teufelswasser»: Arsen tötet Tausende Menschen in Indien Von Nick Kaiser, dpa

Hornhaut, dunkle Flecken, Krebs - Unzählige Menschen leiden in Indien
und Bangladesch, weil sie vor Jahrzehnten unbewusst mit Arsen
verseuchtes Wasser getrunken haben. Ein engagierter Forscher und eine
kleine Gruppe Mediziner versuchen, ihnen zu helfen.

Kolkata (dpa) - Als Afruja in ihrer Hochzeitsnacht zum ersten Mal den
nackten Oberkörper ihres Mannes sah, erschrak sie. «Hilfe, eine
Schlange», sei es ihr entfahren, erzählt die Mittzwanzigerin von dem
Abend vor zwölf Jahren. Der Mann, an den die damalige Jugendliche
verheiratet wurde, hatte lauter dunkle Flecken auf der Haut. Er war
nicht der einzige im ostindischen Dorf Kalyani, der so aussah. Und
als er acht Jahre später mit Mitte 30 an Krebs starb, war das
ebenfalls nichts Ungewöhnliches.

«Ich habe den Menschen in den Dörfern beigebracht, dass sie durch das
Trinken von Arsen-verseuchtem Wasser unheilbar krank geworden waren»,
erzählt der Chemiker Dipankar Chakraborti, der das Institut für
Umweltforschung an der Jadavpur Universität in Kolkata (früher
Kalkutta) leitet. «Vorher hatten viele gedacht, sie würden für etwas

bestraft, was sie im vorherigen Leben getan hatten.»

Es gibt keine genauen Statistiken darüber, wie viele Menschen in
Indien und dem benachbarten Bangladesch Arsenvergiftungen erlitten
haben - auch weil die Ursache einer Krebserkrankung schwer
nachweisbar ist. Der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch
zufolge sterben aber jedes Jahr Tausende Menschen in der Region an
den Folgen des Arsenkonsums.

Das Grundwasser kommt aus dem Himalaya und enthält natürlich
vorkommendes Arsen. Die Vereinten Nationen schätzten schon vor 15
Jahren, dass in Bangladesch bis zu 77 Millionen Menschen Wasser mit
einem Arsengehalt von mehr als 0,05 Milligramm pro Liter trinken. Der
von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) genannte Höchstwert liegt
bei 0,01 Milligramm. Chakraborti hat nach eigenen Angaben in Indien
schon das 40-fache gemessen, in Bangladesch sogar das 700-fache.

In Indien sind laut Nationalem Hydrologie-Institut rund 50 Millionen
Menschen betroffen - die meisten im Bundesstaat Westbengalen. Rund 60
Kilometer nördlich der Hauptstadt Kolkata lebt Afruja heute mit ihrem
zehnjährigen Sohn bei der Familie ihres toten Ehemannes. Auch ihr
Schwiegervater ist an Krebs gestorben, die Schwiegermutter und fünf
weitere Verwandte sind krank.

Der Ort liegt in der Gemeinde Deganga, zu der etliche Dörfer gehören.
Ein Großteil der Bewohner lebt von der Landwirtschaft. Schlammige
Straßen führen an grünen Feldern vorbei; Hühner, Kühe, Ziegen und

Enten laufen herum. Rund 17 000 Menschen leben hier in meist
einfachen Backsteinhäusern. Davon sind nach Angaben des Bewohners
Shankar Prasad Dey, der mit dem Forscher Chakraborti
zusammenarbeitet, in den vergangenen 22 Jahren 1200 krank geworden
und 300 gestorben. Fast jede Familie sei betroffen.

Die Brüder Adaitwo und Sribas Pal, die ihr Alter auf etwa 60 und 55
Jahre schätzen, haben sieben ihrer 20 Familienmitglieder verloren.
Auch ihnen geht es schlecht. Adaitwo musste der rechte Fuß amputiert
werden. Der Oberkörper von Sribas ist mit Flecken übersät, und er hat

Schwierigkeiten beim Atmen. Sein Zustand ist offensichtlich ernst.

Die Medikamente für Sribas müssen in Kolkata - zwei bis drei
Autostunden entfernt - gekauft werden und kosten etwa 1500 Rupien
(rund 20 Euro) im Monat. Die Familie muss sich dafür von Kredithaien
Geld leihen. Arbeiten kann der Obstverkäufer Sribas längst nicht
mehr. Von den Behörden komme keine Hilfe, klagen die Brüder.

Mittlerweile gibt es in vielen Dörfern aufbereitetes Flusswasser zu
trinken. Das verseuchte Wasser wird allerdings immer noch genutzt -
zum Baden, Waschen von Kleidung und zur Bewässern von Kartoffeln,
Reis, Blumenkohl und anderem Anbaugemüse. So gelangt das Arsen laut
Chakraborti in ganz Westbengalen ins Essen. Welche Folgen das noch
haben wird, bleibe abzuwarten. Der Bundesstaat hat mehr Einwohner als
Deutschland.

Chakraborti war 1988 nach 13 Jahren an Hochschulen in verschiedenen
Ländern nach Kolkata zurückgekehrt, als er von dem Arsen-verseuchten
Wasser in seiner Heimat erfuhr. Im Laufe der Jahre hat er überall in
Westbengalen sowie in anderen Bundesstaaten und in Bangladesch Wasser
untersucht und den betroffenen Menschen Haar-, Nagel- und Urinproben
entnommen. Auch in Teilen der 15-Millionen-Metropole Kolkata hat der
Forscher hohe Arsenwerte im Trinkwasser gemessen.

Der Arsengehalt des Grundwassers war in Indien erstmals 1983
festgestellt worden, aber erst Jahre später wurde das Problem durch
Chakraborti weitläufig bekannt: Er veröffentlichte zahlreiche Studien
und organisierte zwei internationale Konferenzen in den 1990er
Jahren. Er legte sich zudem häufig mit der westbengalischen Regierung
an, der er vorwirft, ihn mundtot machen zu wollen, weil er ihre
Fahrlässigkeit enthülle.

Der drahtige, kleine Mann mit graumeliertem Bart ist 76 Jahre alt. Er
komme für 17 Kinder aus den Dörfern finanziell auf, erzählt er. Die
überwiegende Mehrheit der Zeit verbringt er in seinem Büro, mit zu
einem halben Schneidersitz angewinkeltem Bein vor dem Laptop.

Dort hat er eine Powerpoint-Präsentation mit 150 Folien erstellt.
Eine davon enthält den Text einer E-Mail, die laut Chakraborti ein
damaliger WHO-Berater für Umweltgesundheit in Südasien ihm Anfang des
Jahres 2000 geschrieben hat. «Viel Glück mit dem Arsen-Thema. Ich
werde es zum Glück bald los sein», steht dort. Der Berater habe sich
für eine Frührente entschieden, heißt es weiter. «Ich bin es satt,

für etwas zu kämpfen, das niemanden interessiert.»

Die Menschen in der Region hatten in den 1970er Jahren angefangen,
Grundwasser zu trinken, weil die WHO und Unicef das Bohren
sogenannter Rammbrunnen als saubere Wasserquelle und Alternative zum
Oberflächenwasser gefördert hatten. Dieses hatte Cholera und andere
Krankheiten verursacht. Vom Arsen im Grundwasser wusste damals
niemand.

Eine Anfrage zu der E-Mail beantwortet die WHO nicht. Eine
Unicef-Sprecherin in Indien will sich ebenso wenig zur Rolle des
UN-Kinderhilfswerks bei der Entstehung der Arsen-Krise äußern. Sie
betont aber, dass Unicef viel Arbeit leiste, um den Betroffenen zu
helfen - etwa durch Wasseranalysen, die Entwicklung von Technologien
zum Filtern des Arsens und das Ausarbeiten von Strategien für
sauberes Trinkwasser.

Eine Arsenvergiftung äußert sich meist zuerst durch sogenannte
Keratose - eine schmerzhafte, juckende Hornhaut - an den Handflächen
und Fußsohlen, die sich in der Folge ausbreitet. Hinzu kommt danach
oft eine Hyperpigmentierung der Haut - die dunklen Flecken, die
Afruja an eine Schlange erinnerten. Es kann zu Krebserkrankungen der
Haut und anderer Organe kommen - manchmal erst Jahrzehnte nach der
Vergiftung, je nachdem, wie viel Arsen wie lange getrunken wurde.

Auch Nervenkrankheiten können eine Folge sein, wie der Neurologe
Subhash Chandra Mukherjee erklärt. Zu den Symptomen gehörten Kribbeln
und Taubheitsgefühl in Händen und Füßen, brennender Schmerz in den

Beinen bis hin zu Muskelschwund. «Manche Patienten können im Winter
wegen des brennenden Gefühls keine Kleidung an den Beinen tragen»,
sagt er. Andere seien extrem lichtempfindlich und könnten ihre Häuser
bei Tag nicht verlassen.

Mukherjee gehört zu einer Gruppe von Medizinern, die hin und wieder
auf eigene Kosten mit Chakraborti in die Dörfer fährt, um die Kranken
zu behandeln und Tests durchzuführen. Hilfe leisteten dort nur
Freiwillige wie sie und Nichtregierungsorganisationen, erzählt der
pensionierte Neurologie-Chef des Krankenhauses Medical College in
Kolkata. «Es gab nie ein ernsthaftes Bemühen irgendeiner Regierung.»

Es gebe viele andere Probleme in Indien, zudem seien die meisten
Betroffenen arm, sagt Mukherjee. «Solange keine wichtige Person eine
solche Krankheit bekommt, kümmert es keinen.»

Chakraborti erzählt, was passierte, als die Rammbrunnen erstmals nach
Westbengalen kamen: «Die Leute sind aus ihren Dörfern geflüchtet und

haben «Teufelswassser» gerufen.» Sie hätten Angst gehabt, weil das

Wasser von unter der Erde stammte. «Aber Unicef, die WHO und die
indische Regierung haben ihnen gesagt: Ihr bekommt wunderbares Wasser
und könnt das ganze Jahr über ernten.» So hätten sich die Rammbrunn
en
durchgesetzt, bis es Millionen waren, erklärt Chakraborti. «Letztlich
hat sich gezeigt, dass es tatsächlich Teufelswasser war.»