Krebsmedikamente gepanscht - «Wir setzen zu sehr auf Vertrauen» Von Fabian May, dpa

Beinahe 62 000 Mal soll ein Apotheker aus Bottrop Krebsmedikamente
mit stark verdünntem Wirkstoff angemischt haben. Patientenvertreter
sind entsetzt - und fordern die Politik zum Handeln auf.

Essen/Bottrop (dpa) - Allein die Masse der angeklagten Einzelfälle
gibt Rätsel auf: Ein Apotheker aus Bottrop soll in fast 62 000 Fällen

Krebsmedikamente massiv verdünnt und so die Krankenkassen um 56
Millionen Euro betrogen haben. Mehr als 1000 Krebspatienten bekamen
Mittel für Chemotherapien und andere Medikamente, die laut Anklage
kaum oder gar nicht wirkten. Am Mittwoch hat die Staatsanwaltschaft
diese und weitere Details zur Anklage gegen den 47-jährigen Apotheker
bekannt gegeben. Patientenschützer sind alarmiert und fordern eine
schärfere Überwachung der rund 300 Schwerpunktapotheken für
Krebspatienten in Deutschland

820 Seiten dick ist die Anklage, die beim Landgericht Essen liegt.
Die Richter müssen prüfen und entscheiden, ob sie das Strafverfahren
gegen den Apotheker eröffnen. Von 61 980 besonders schweren Verstößen

gegen das Arzneimittelgesetz geht die Staatsanwaltschaft aus. Einige
Fälle der versuchter Körperverletzung sowie des gewerbsmäßigen
Betrugs kommen hinzu.

Die Apotheke in Bottrop war bis zum Bekanntwerden der Vorwürfe eine
sogenannte Onkologie-Schwerpunktapotheke. Solche Apotheken verfügen
über sterile Labore und versorgen Patienten individuell mit
krebshemmenden Medikamenten.

Der Beschuldigte habe «die Beschaffungspraxis seiner Apotheke
systematisch so ausgerichtet, dass es von vornherein unmöglich war,
die große Vielzahl der von ihm vertriebenen Zubereitungen mit den
verschriebenen Wirkstoffen in den verschriebenen Mengen
herzustellen», heißt es in der Anklage. Seine Patienten bekamen
Medikamenten mit viel zu wenig Wirkstoff. Zahlreiche Betroffene und
Hinterbliebene haben Strafanzeige erstattet.

Patientenvertreter fordern Konsequenzen und schärfere Kontrollen für
solche Apotheken, die selbst Medikamente herstellen. «Die
Kontroll-Regeln für Schwerpunkt-Apotheken sind miserabel», kritisiert
Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz.
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) müsse die gesetzlichen
Regelungen verschärfen.

«Das Risiko, bei einem solchen Betrug entdeckt zu werden, muss größer

werden», fordert auch Jürgen Heckmann von der Deutschen
Ilco/Darmkrebs-Selbsthilfegruppe. Der Paritätische Wohlfahrtsverband
verlangt in einer Petition, es müsse regelmäßige unangekündigte
Überprüfungen geben, «eine Plausibilitätskontrolle des Wareneingang
s
und Warenausgangs». Nicht verwendete Präparate müssten
stichprobenartig kontrolliert werden.

«Wir setzen zu sehr auf Vertrauen», findet Brysch. «Dahinter stecken

tausende Schwerstkranke, die die Hoffnung hatten, durch die
individuelle Krebstherapie Heilung oder mehr Lebenszeit zu erhalten.»