Der Psychiater für zu Hause: Klinik-Fachärzte erproben neues Modell Von Ulrike von Leszczynski, dpa

Psychiatrie. Nicht selten läuft bei diesem Stichwort der
Filmklassiker «Einer flog übers Kuckucksnest» im Kopfkino ab:
Verrückte, die hinter verriegelten Türen in Schach gehalten werden.
In einem Berliner Modellversuch ist alles ganz anders. Der Psychiater
kommt zum Patienten nach Hause.

Berlin (dpa) - Max nennt sich Max, weil niemand seinen wirklichen
Namen lesen soll. Noch nicht einmal den Vornamen. «Psychiatrie, das
ist wie ein Stempel», sagt er. «Ich bin aber nicht irre.» Max ist 71

Jahre alt. Vor kurzem ist seine Frau gestorben. Ein plötzlicher Tod,
es gab keine Vorboten. Max hat das nicht verkraftet. Er wollte auch
sterben. Wer beispielsweise in Berlin nachts glaubhaft Suizidgedanken
äußert, findet sich schnell in der Notaufnahme einer Klinik wieder -
und danach nicht selten in der Psychiatrie. «Es war nur eine Nacht.
Aber diese Erfahrung wünsche ich niemandem», sagt Max zu diesem
Kapitel.

Es fiel ihm nicht leicht, zu verstehen, dass der Tod seiner Frau bei
ihm eine schwere Depression ausgelöst hat. Eine seelische Krankheit,
die unbehandelt schlimmer wird. Bei Max war sie zu stark, um ihm in
einer Praxis oder Ambulanz eine Therapie anzubieten. «Ich lag nur im
Bett, null Antrieb», erinnert er sich. So blieb nur die Klinik als
Ausweg. Nach ersten Erfolgen mit Medikamenten wollte Max aber nicht
länger im Krankenhaus bleiben. Er wollte nach Hause.

Normalerweise wäre es bei seiner akuten psychischen Krise zu früh für

eine Entlassung gewesen. Aber Max hat Glück gehabt, dass seine
Krankenversicherung DAK seit einem Jahr mit den kommunalen
Vivantes-Kliniken in den Berliner Stadtteilen Kreuzberg und Neukölln
ein neues Modell testet: «Flexi-Team» oder «Home Treatment» heißt
es.
Weil Max nicht in der Klinik bleiben wollte, kommt sein behandelnder
Arzt Matthias Bohe nun zu ihm nach Hause. Dass sein Besucher ein
Facharzt ist, spezialisiert auf seelische Probleme, ignoriert Max
geflissentlich. «Er kommt mit dem Rad. Und dann reden wir ein
bisschen», sagt er.

Matthias Bohe ist nicht der einzige mobile Vivantes-Psychiater. Sein
Kollege Sandeep Rout aus dem Klinikum Neukölln trifft sich mit einem
seiner Patienten regelmäßig am Zeitungskiosk. Ein Hausbesuch war dem
Mann nicht Recht - er hatte Sorge, dass die Nachbarn reden. Für
Sandeep Rout ist das in Ordnung so.

Schizophrenie und Psychosen machen rund ein Drittel aller Fälle in
Berliner Krankenhauspsychiatrien aus, berichtet Ingrid Munk,
Chefärztin der Psychiatrie am Klinikum Neukölln. Menschen haben
Halluzinationen, Verfolgungswahn oder nehmen die Realität aus anderen
Gründen verzerrt wahr. Manchmal sind auch Drogen im Spiel. «Eine
schwere Krise irgendwann im Leben ist normal», sagt Munk.

Psychiater arbeiten in der Hauptstadt meist in Praxen, Ambulanzen
oder im Krankenhaus. Das Modellprojekt versucht, dieses starre System
aufzubrechen. Das ist auch im Sinn des neuen Gesetzes zur
Weiterentwicklung der Versorgung und Vergütung für psychiatrische
Leistungen, kurz PsychVVG. Es sieht seit Jahresbeginn eine
«stationsäquivalente psychiatrische Behandlung vor» - zu deutsch:
gleichwertige aufsuchende Hilfe statt eines Klinikaufenthalts.

Bundesweit ist das Berliner Modell kein Einzelfall. Das Uniklinikum
Dresden hat zur Zeit 97 ähnliche Projekte im Blick und will auf lange
Sicht Erfolge bei Patienten mit jenen vergleichen, die klassisch
betreut werden. Dabei geht es auch um Kosten und Effizienz.

Ziel der Kooperation von Vivantes und Krankenkasse ist es, mehr auf
die individuellen Wünsche und Fähigkeiten von Menschen mit seelischen
Erkrankungen einzugehen - weg vom genormten «Fall». Dafür vergibt die

DAK für die psychiatrischen Kliniken ein Gesamtbudget von rund zwölf
Millionen Euro im Jahr. «Es ging nicht um Kostenersparnis», betont
Volker Röttsches, DAK-Leiter für Berlin und Brandenburg. Das Budget
für die Psychiatrien sei gleich groß geblieben. Vivantes hat für das

Modell acht Stellen zusätzlich geschaffen. Die Krankenhäuser können
bei der Verwendung der Mittel nun frei zwischen ambulant, stationär,
Hilfen zu Hause und vergleichbaren Leistungen entscheiden.

Was simpel klingt, ist für Klinikärzte eine große Befreiung. Denn
bisher ist ein Patient entweder «ambulant» oder «stationär».
«Dazwischen gibt es nichts», sagt Andreas Bechdolf, Chefarzt der
Psychiatrie im Kreuzberger Klinikum Am Urban. «Alle denken zuerst an
die Geldtöpfe, aber nicht an die Patienten.» Die Niederlande,
Großbritannien, Skandinavien, sie alle handhabten Hilfen inzwischen
flexibel. «Nur bei uns wird das nicht finanziert, obwohl es
sinnvoller ist», ergänzt seine Kollegin Ingrid Munk.

Eine erste Zwischenbilanz des Modellversuchs nach einem Jahr? Weniger
Menschen fielen durch das Raster, sagt Bachdolf. Die neue Verzahnung
der Hilfsangebote auch außerhalb der Klinik bremse «Drehtüreffekte»

aus. Dabei verlassen Menschen zum Beispiel nach einer behandelten
Psychose die Klinik, kommen zu Hause aber nicht zurecht. Und dann
werden sie wieder eingeliefert.

Andere psychisch Kranke möchten nicht für längere Zeit in eine
Klinik. Für junge Frauen spielt eine Rolle, dass sie ihre Kinder
nicht allein lassen möchten. Für sie greife nun ein gleichwertiger
Behandlungsplan, nur eben ohne Klinikbett, sagt Munk. «Eine akute
psychische Erkrankung muss nicht immer Krankenhaus bedeuten.»
Natürlich sei aufsuchende Hilfe nicht bei allen seelisch kranken
Menschen möglich. «Aber für bis zu einem Viertel von ihnen kann es
nach unseren bisherigen Erfahrungen eine Alternative sein.»

Das Modellprojekt kann acht Jahre laufen. Im ersten Jahr haben rund
200 Patienten in Kreuzberg und Neukölln von dem neuen Ansatz
profitiert. Von allen Behandelten im Programm hatten die
Alternativ-Angebote nur bei zehn Prozent keinen Erfolg, berichten die
Kliniken.

Psychiater Sandeep Rout vom Klinikum Neukölln fährt nun mit der
U-Bahn zu einigen seiner Patienten. Er sieht bei seinen Hausbesuchen
Hierarchien dahinschmelzen. «Wir sind bei unseren Patienten zu Gast»,
sagt er. «Da fällt viel mehr ins Auge, was sie gut können. Und nicht

zuerst, was sie alles nicht können.»

Die Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit sieht das
Kooperationsmodell erst einmal positiv. «Es ist gut, neue Wege zu
erkunden und dadurch Schnittstellen zwischen ambulanter und
klinischer Versorgung sowie anderen Angebotsformaten zu bedienen»,
sagt Thomas Götz, Landesbeauftragter für Psychiatrie - und selbst vom
Fach. Weniger gut findet er, dass das neue Konzept bei Vivantes nur
Versicherten einer Krankenkasse zur Verfügung steht - und nicht allen
Patienten. Vivantes sagt dazu, der Konzern habe auch bei anderen
Kassen angefragt. Bisher sei keine Bereitschaft signalisiert worden.

Schon lange geht es in der Klinik-Psychiatrie darum, die Verweildauer
von Patienten zu verringern. «Vor 30 Jahren waren wir bei 60 Tagen,
heute sind es 16», berichtet Munk. Dabei spiele nicht allein
Einspar-Potenzial eine Rolle. Selten tue es gut, lange Zeit in einer
Krankenhaus-Atmosphäre zu leben. Und die «Geschlossene»? Nur rund
acht Prozent der Patienten seien nicht freiwillig in der Psychiatrie,
antwortet die Ärztin. In der Regel hätten Richter sie eingewiesen,
weil sie eine Gefahr für andere Menschen seien - oder für sich
selbst.

Natürlich bedeute das neue Modell, begrenzt Risiken einzugehen,
betont Chefärztin Munk. «Aber man kann auch niemanden einsperren.»
Das flexible Herangehen könne passen, wenn ein Patient ansprechbar
sei und sich an die gemeinsam verabredeten Vereinbarungen halte. «In
der Regel sind Patienten damit zufriedener - und ihre Angehörigen
auch.» Ein Plan für die Zukunft ist, die Flexi-Teams auch an die
Notaufnahmen anzubinden. Damit Patienten, für die die neuen
Hilfsangebote der Klinik passen, gar nicht erst auf die
Psychiatriestation verlegt werden müssen.