Reparatur geglückt? - Karlsruhe flickt Tarifeinheitsgesetz Von Anja Semmelroch und Basil Wegener, dpa

Mit viel Wohlwollen bewahrt das Verfassungsgericht die Tarifeinheit
von Arbeitsministerin Nahles vor dem «Ungenügend». Bringt das jetzt
mehr oder weniger Streiks, bessere Tarifabschlüsse oder schlechtere?
Klar ist nur eines: Die Hauptlast tragen die Arbeitsgerichte.

Karlsruhe (dpa) - Claus Weselsky sieht seine Lokführergewerkschaft
GDL für die nächsten 150 Jahre gesichert, die Pilotenvereinigung
Cockpit (VC) bangt weiter um ihre Zukunft: Die Reaktionen auf das
Karlsruher Urteil zum Tarifeinheitsgesetz fallen so unterschiedlich
aus, als hätte das Bundesverfassungsgericht am Dienstag zwei
verschiedene Entscheidungen verkündet. Wer gewinnt, wer verliert,
wird sich wohl erst auf lange Sicht zeigen. Manches zeichnet sich
aber jetzt schon ab. (Az. 1 BvR 1571/15 u.a.)

Tarifeinheit - was heißt das überhaupt?

Deutschlands Tariflandschaft ist ein bunter Flickenteppich. Ob
Lokführer, Piloten, Fluglotsen oder Klinikärzte - alle streiten für
ihre Interessen, und wenn es hart auf hart kommt, auch mit Streiks.
Bei der Bahn oder im Luftverkehr bleiben schnell zigtausend Reisende
auf der Strecke. Und hat der Arbeitgeber eine Front befriedet, geht
es manchmal gleich am nächsten Kampfplatz los. Mit dem Gesetz will
Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) sicherstellen, dass es
zumindest pro Betrieb immer nur einen Tarifvertrag geben kann. Das
war nach einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts von 2010 nicht mehr
gewährleistet.

Wie soll das funktionieren?

Zählen ist angesagt, denn das Gesetz sieht vor, dass sich die
Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern im Betrieb durchsetzt. Gibt
es konkurrierende Abschlüsse, soll nur ihr Tarifvertrag gelten. Das
Kalkül der Bundesregierung ist, dass es die Rivalen darauf nicht
ankommen lassen. Sie sollen sich vorher an einen Tisch setzen und
ihre Interessen und Zuständigkeiten abstimmen - zum Vorteil aller.

Warum ist das Gesetz in Karlsruhe gelandet?

Verdi, vor allem aber kleine Gewerkschaften bis zur Vereinigung
deutscher Opernchöre und Bühnentänzer setzen sich zur Wehr. Die
Interessen sind verschieden, aber im Grunde treibt sie alle die
gleiche Sorge um: Dass sie ihre Ziele nicht mehr durchgesetzt
bekommen und am Ende den Kürzeren ziehen. Denn die Arbeitgeber, so
die Befürchtung, werden so gewieft sein, sich den genehmeren
Verhandlungspartner auszuwählen, die Gewerkschaften sich im Kampf um
Mitglieder gegenseitig aufreiben. Mit Verfassungsklagen wollten sie
das Gesetz aus der Welt schaffen.

Wer hat sich durchgesetzt?

Auf den ersten Blick die Ministerin. Die Richter des Ersten Senats
kommen zu dem Schluss, dass das Gesetz weitgehend verfassungsgemäß
ist. Damit kann es in Kraft bleiben. Auch die umstrittene Regelung
mit der Mitgliederstärke hat im Kern Bestand - auf die Gefahr hin,
dass die kleinere Gewerkschaft es in Zukunft schwerer haben dürfte,
Mitstreiter für ihre Sache zu gewinnen. Im Detail machen die Richter
aber so viele Auflagen und einschränkende Vorgaben, dass die
Ärztegewerkschaft Marburger Bund das Gesetz «auf die Intensivstation
gelegt» sieht, die Behandlung habe Karlsruhe gleich selbst begonnen.

Womit haben die Richter ihre Probleme?

Sie sehen nicht ausreichend sichergestellt, dass unterlegene
Gewerkschaften nicht ganz unter die Räder kommen, insbesondere die
kleinen Berufsgruppen mit ihren Spezialanliegen. Die VC etwa hatte
immer betont, dass an Bord eines Flugzeugs nun mal ein ganzes Team
Flugbegleiter, aber nur zwei Piloten sind. Und nur knapp 15 Prozent
aller Krankenhaus-Beschäftigten sind Ärzte. Es hat aber auch niemand
bedacht, wie für die Arbeitnehmer zentrale Vereinbarungen geschützt
werden sollen - zur Altersvorsorge, zum Kündigungsschutz, zur
Lebensarbeitszeit. Hier akzeptiert Karlsruhe keine Abstriche.

Und das lässt sich reparieren?

Für den besseren Schutz kleiner Berufsgruppen muss der Gesetzgeber
bis Ende 2018 eine Lösung finden. In anderen Punkten geben die
Richter gleich selbst vor, wie das Gesetz zu lesen ist. Der Gefahr,
dass kleinere Gewerkschaften für Streikschäden aufkommen müssen, wenn

sie bei unklaren Mehrheitsverhältnissen einen Arbeitskampf anzetteln,
begegnen sie sofort: Ein Haftungsrisiko bestehe nicht. Die größte
Aufgabe kommt aber auf die Arbeitsgerichte zu. Sie haben bei heiklen
Regelungen sicherzustellen, dass die Belastungen zumutbar bleiben.
Verdi befürchtet «uneinheitliche Urteile und unzählige Prozesse».

Kann das funktionieren?

Kritik kommt aus dem eigenen Kreis. Zwei Richter, darunter die für
das Verfahren zuständige Berichterstatterin Susanne Baer, hätten
Nahles das Gesetz nicht durchgehen lassen. Vor allem haben sie wenig
Verständnis dafür, dass Karlsruhe zu retten versucht, was die Politik
nicht zu Ende gedacht hat. Schon heute herrscht große Uneinigkeit, ob
die Tarifeinheit überhaupt Machtkämpfe entschärfen und Blockaden
verhindern kann - angewandt wurde das Gesetz seit Inkrafttreten Mitte
2015 nämlich nie. Mit dem großen «Ja, aber ...» aus Karlsruhe dür
fte
dahinter noch ein Fragezeichen mehr zu setzen sein.