Europa träumt wieder - aber nicht jeder macht mit Von Martina Herzog und Thomas Lanig, dpa

Ein Neuling, der Blicke auf sich zieht, ein Ratschef, der sich auf
einen Song besinnt: Beim Brüsseler EU-Gipfel herrscht Optimismus -
konkrete Ergebnisse müssen folgen.

Brüssel (dpa) - Wenn ein Politroutinier in Brüssel John Lennon
zitiert, dann weiß man: Europa werkelt wieder an Visionen. «You may
say I'm a dreamer, but I am not the only one», sagt EU-Ratspräsident
Donald Tusk am Donnerstag. «Ihr könnt mich einen Träumer nennen, aber

ich bin nicht der einzige.» Soweit Tusks poetischer Beitrag zur
Frage, ob die Entscheidung Großbritanniens zum EU-Austritt umkehrbar
wäre. Nach Jahren, in denen in Europa eine Krise der anderen folgte,
macht sich derzeit gute Laune breit. «Heute hat der Optimismus
überwogen», sagt Kanzlerin Angela Merkel. Fragt sich nur, wie
realistisch das ist.

In der Tat träumt Tusk dieser Tage nicht allein und nicht nur vom
Brexit-Exit. Vieles scheint möglich, seit mit dem französischen
Präsidenten Emmanuel Macron ein glühender Europafreund in den
Élysée-Palast eingezogen ist. Die Abfuhr für die EU-Gegner auch bei
den Wahlen in den Niederlanden und eine Londoner Regierung, die dem
Brexit bislang nur hilflos entgegen stolpert, tun ein Übriges.
Brüssel bläst die Backen auf.

So viel positive Stimmung soll nicht verpuffen. Es sei Zeit für die
Erneuerung Europas, sagt Macron. Aufdrücken dürfe man das den Völkern

des Kontinents aber nicht, wie er der «Süddeutschen Zeitung» und
anderen Blättern gerade erläutert hat. «Wir müssen sie mitnehmen, w
ir
müssen sie wieder träumen lassen!»

Auch von Europa, einem «Europa, das schützt», wie Macron gerne sagt:

vor Sozialdumping oder chinesischen Investoren-Heuschrecken. «Jeder
sieht das Chaos der Globalisierung», sagt Macron. Beim Weg nach vorn
setzt er auf den Schulterschluss mit Berlin, eine «Allianz des
Vertrauens». Denn: «Europäische Themen verdienen mehr als forsches
Auftreten, als Kämpfe, die einer allein führen will. Einsame Kämpfe
enden immer in der Isolation.»

Kanzlerin Angela Merkel, die Analytische, Erfahrene, reagiert auf
Macrons Reformeifer mit viel Sympathie, aber auch Zurückhaltung. «Ich
glaube, dass gerade auch Kreativität und neue Impulse, die von
Frankreich ausgehen, die von Deutschland und Frankreich ausgehen,
allen gut tun können», sagt sie.

Sie weiß auch, worauf es zunächst ankommt. Endlich gebe es wieder
Wachstum in allen Ländern. Das müsste aber auch «spürbar werden f
ür
die Menschen, sowohl was Arbeitsplätze anbelangt, aber auch was das
Thema Sicherheit anbelangt.»

Unerwartet deutlich unterstützt Merkel den französischen Präsidenten

auch bei seiner Kritik an der mangelnden Solidarität einiger
Osteuropäer in der Flüchtlingspolitik. Europa sei «kein Supermarkt»
,
sagte er - und Merkel stimmt zu.

Ganz anders sieht das der rechtsnationale ungarische
Ministerpräsident Viktor Orban, der Macrons Premiere misstrauisch
beäugt. «Der neue französische Präsident ist ein Frischling», sag
t
er. «Sein Einstand war wenig ermutigend.» Dass derselbe Orban ganz
selbstverständlich gemeinsam mit Merkel am üblichen Spitzentreffen
der Europäischen Volkspartei EVP teilnimmt, aus der ihn bisher
niemand ausschließen wollte, gehört allerdings auch zur Realität in
Europa dazu.

An diesem Tag des Macron-Einstands gibt es auch sonst noch Punkte,
die Merkel nicht nur gute Laune machen. Da ist erst einmal der Streit
um die beiden EU-Agenturen, die viele Länder nach dem Umzug aus
London gerne haben wollen. Dass es eine Absprache zwischen
Deutschland und Frankreich gebe, weist Merkel zurück. Dass die
Bundesregierung aber eine der beiden Prestige-Behörden, entweder die
Bankenaufsicht EBA oder die größere Arzneimittel-Agentur EMA, nach
Deutschland holen möchte, ist auch klar.

Noch heikler ist die Kritik an den Plänen für die Gaspipeline Nord
Stream 2 von Russland. Die EU-Kommission will dafür ein
Verhandlungsmandat mit Russland. Merkel lehnt das bisher ab, weil es
sich nach deutscher Lesart um ein privates unternehmerisches Projekt
handelt.

Macron und Merkel: Da bleibt noch vieles zu besprechen. Nächste
Gelegenheit ist die Trauerfeier für Altbundeskanzler Helmut Kohl am
1. Juli im französischen Straßburg. Gelegenheit vor allem auch, die
neue deutsch-französische Nähe zu demonstrieren.