Trend zum Ernährungshypochonder? Von echten und gefühlten Allergien Von Gisela Gross und Ulrike von Leszczynski, dpa

Der Mensch ist, was er isst. Ernährung kann aber auch zur Mode
werden. Immer mehr Menschen verzichten hierzulande auf
Grundnahrungsmittel - eine rätselhafte Entwicklung.

Berlin (dpa) - Beim Kindergeburtstag oder beim Kochen mit Freunden
kann es ganz schön kompliziert werden: Gluten-Unverträglichkeit,
Laktose-Intoleranz, Nuss-Allergie - und bitte bloß keinen Zucker. Als
Reaktion auf eine Einladung folgt nicht selten eine Leidensliste der
Gäste. Leiden sie wirklich oder sind Lebensmittel-Zipperlein einfach
nur schick geworden? Soziologen und Ernährungswissenschaftler sind
sich einig, dass die Anzahl der angeblichen Probleme mit
Nahrungsmitteln in Deutschland zugenommen hat. Die Frage, die sich
vor dem Deutschen Lebensmittel-Allergietag am Mittwoch (21. Juni)
stellt: Was steckt dahinter?

Die neue Mode treibt seltsame Blüten. Ein verzweifelter Vater kaufte
für den Kindergeburtstag glutenfreie Muffins, weil er ohne Eier,
Milch und Mehl keinen Kuchen backen konnte. Und manche Kochkünstler
laden seltener Gäste ein, weil sie die langatmigen
wer-verträgt-was-Diskussionen Leid sind. «Die Tendenz, Ernährung zu
problematisieren, ist in den vergangenen Jahren eindeutig stärker
geworden», sagt Jana Rückert-John, Professorin für «Soziologie des

Essens» an der Hochschule Fulda. «Es gibt echte Lebensmittelallergien
und Unverträglichkeiten. Aber es gibt auch einen rapiden Anstieg der
gefühlten oder der behaupteten.»

Ernährungswissenschaftler und Buchautor Uwe Knop hat für Menschen,
die der neuen Entwicklung folgen, einen wenig schmeichelhaften Namen:
Ernährungshypochonder. Für ihn zählt dazu, wer ohne ärztliche
Diagnose bestimmte Lebensmittel meidet. «Manchmal habe ich den
Eindruck, Zucker ist das neue Herion», ergänzt er spitz. Valide
Zahlen zu dem neuen Trend gebe es nicht. Nur krasse Einzelfälle, die
erschrecken. So starb in Belgien ein Baby, weil die Eltern ohne
Diagnose eine Laktose- und Glutenintoleranz vermuteten. Sie fütterten
den kleinen Jungen monatelang nur mit Flüssigkeit aus Reis, Hafer,
Quinoa und Buchweizen. Das unterernährte Kind dehydrierte.

Außer Frage steht: Nüsse, Äpfel, Meeresfrüchte oder Sellerie könn
en
bei Erwachsenen gesundheitliche Probleme auslösen. «Es sind die
häufigsten Allergien gegen Lebensmittel», sagt Margitta Worm,
Leiterin der Hochschulambulanz der Klinik für Dermatologie,
Venerologie und Allergologie an der Berliner Charité. Die Folgen
reichen von Hautjucken und Schwellungen bis hin zu
Magen-Darm-Problemen. «Bei schweren Verläufen können es auch Luftno
t
und Kreislaufreaktionen sein», ergänzt Worm. Die schwerwiegendste
Folge sei ein anaphylaktischer Schock - eine Extremreaktion auf ein
Allergen, die tödlich enden kann.

Statistisch gesehen treffen solche Allergien allerdings nur zwei bis
drei Prozent der Erwachsenen. Damit sind die Beschwerden deutlich
seltener als zum Beispiel Heuschnupfen mit rund 16 Prozent. Bei
Kindern liegt die Quote der Nahrungsmittelallergien mit fünf bis
sechs Prozent etwas höher. Allerdings gingen zum Beispiel
Milcheiweißallergien bis zur Einschulung oft wieder weg, berichtet
Worm. Noch deutlich geringer sind die Werte bei einer
Unverträglichkeit gegen Gluten, dem Klebeeiweiß in einigen
Getreidesorten. Unter einer chronischen Erkrankung des Dünndarms
(Zöliakie) litten in Deutschland 0,9 Prozent der Bevölkerung, sagt
die Medizinerin.

Ein Blick auf die Auswahl glutenfreier Produkte im Supermarkt und auf
die wachsenden Marktanteile von Produzenten aber lässt eine Art
plötzliche Massenepidemie vermuten. «Für mich als Soziologin ist es
interessant, wenn Menschen sich so beschreiben - ob sie das nun haben
oder nicht», sagt Jana Rückert-John. «Es macht ganz offensichtlich
etwas mit ihnen, und es geht um die Gründe dieser
Selbstbeschreibung.»

Ernährungswissenschaftler Knop vermutet eine Mischung aus
Profilierung und Selbstdarstellung. Und damit eine ähnliche
«Ich-Inszenierung» wie sie Wissenschaftler bereits beim Veganer-Hype
beobachteten: Verzicht und Abgrenzung, um interessant zu bleiben. Für
John hat die neue Mode soziale Effekte. «Man findet damit Anschluss
und Verbündete. Wer keine Allergie oder keine Unverträglichkeit hat,
der ist heute ja fast schon irgendwie langweilig», sagt sie. Trotzdem
wägt sie ab. Grundsätzlich sei es ein positiver Aspekt, wenn Menschen
mehr über das Thema Essen nachdächten und redeten. «Doch es ist
typisch deutsch, es so stark zu problematisieren.»

Für die Soziologin ist es die Wohlstandsgesellschaft, die den
Bundesbürgern zu schaffen macht. «Es gibt eine hochgradige
Unsicherheit, die mit diesem Überfluss einhergeht», sagt sie. Einmal
gehe es um das Thema Gesundheit, also um all die Krankheiten, die mit
Ernährung assoziiert würden. Zum anderen spielten negative
Umwelteffekte eine Rolle - Tierhaltung, Flächenverbrauch, Folgen
intensiver Landwirtschaft und globale Verflechtungen. «Und dann kommt
der Punkt der eigenen Verantwortung dabei.» Aus dieser Unsicherheit
heraus fiele dann oft eine Entscheidung: Ich beschränke mich. Weniger
ist mehr.

Was weniger - das ist vielleicht gar nicht so entscheidend. Der
Aufdruck «frei von» scheint für Werbestrategen im Moment attraktiv zu

sein. Auf Laktose-Intoleranz, unter der maximal ein Fünftel der
Bevölkerung leidet, hat der der Markt reagiert - mit Kokos-, Soja-,
Reis-, Hafer-, Mandel- oder Hanfmilch.

«Das sind Phänomene einer übersättigten Wohlstandsgesellschaft, die

sich die Pathologisierung von Grundnahrungsmitteln wie Milch und
Getreideprodukten leisten kann», sagt Uwe Knop dazu. Für den Handel
aber sei es ein gutes Geschäft. «Glutenfreie Nudeln kosten 1,55 Euro,
normale Nudeln 49 Cent.»

Knop sieht im angesagten Lebensmittel-Verzicht - und dem Spott
darüber - aber ein ganz neues Problem. «Die echten Allergiker leiden
darunter, dass viele ihr Problem nicht mehr ernst nehmen. Das ist wie
eine Desensibilierung der Gesellschaft.»