Bericht erschüttert: Kindesmissbrauch in Familien unterschätzt

Väter als Täter - und Mütter als Mitwisser. Es sind erschütternde
Lebensgeschichten, wenn Erwachsene sexuellen Missbrauch in ihrer
Kindheit schildern. Eine Kommission wertet hunderte Einzelschicksale
aus - und sieht ein Massenphänomen.

Berlin (dpa) - Mütter in Deutschland haben sich bei sexuellem
Missbrauch in Familien zu selten schützend vor ihre Kinder gestellt.
Das ist ein Ergebnis des ersten Zwischenberichts der Unabhängigen
Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, der am
Mittwoch in Berlin vorgestellt wurde. Hunderte Erwachsene schilderten
dafür, wie sie als Kinder oft keine oder erst spät Hilfe erfuhren.
Denn Familienangehörige reagierten trotz ihres Wissens um die
Übergriffe nicht. Insbesondere Mütter hätten Missbrauch als
Mitwissende geduldet und ihn dadurch unterstützt, heißt es in der
Studie.

«Der Bericht gibt einen tiefen Einblick in das Versagen von Müttern»,

sagt Johannes-Wilhelm Rörig, Unabhängiger Beauftragter für Fragen des

sexuellen Kindesmissbrauchs, der Deutschen Presse-Agentur. «Es gab
Fälle, in denen Kinder ihre Mütter gefragt haben: «Weißt du
überhaupt, was der Papa mit mir macht?». Und die Mütter haben dann
ihre Töchter als Hure oder Schlampe beschimpft.» Die Sammlung der
Einzelschicksale sei erschütternd, ergänzte er.

«Die Betroffenen sprechen, damit sich etwas verändert», erklärte
Bundesfamilienministerin Katarina Barley. Sie werde sich dafür
einsetzen, die Mittel für die erfolgreiche Arbeit der Kommission
aufzustocken.

Rund 300 Erwachsene haben bisher Missbrauchserfahrungen in Kindheit
und Jugend geschildert. 700 weitere warten auf ihre Anhörung. Am
häufigsten meldeten sich Frauen zwischen 30 und 50 Jahren. Mehr als
zwei Drittel aller Betroffenen (70 Prozent) berichteten bisher von
Übergriffen in ihrer Familie oder ihrem engen sozialen Umfeld. Das
entspricht dem Stand der Forschung, wonach die Familie der
Haupttatort für sexuelle Übergriffe ist. Viele Betroffene erlebten
ohnmächtige Mütter - oder Mütter, die nicht einschritten, um ihren
Partner nicht zu verlieren.

«Es sind Lebensgeschichten, die aufwühlen», sagt Sabine Andresen,
Vorsitzende der Kommission. «Zu den Tätern gehörten Väter, Großv
äter,
Stiefväter, ältere Geschwister und manchmal auch die Mütter.» Was
Betroffene am meisten belaste, sei die Tatsache, dass ihnen oft weder
geglaubt noch geholfen wurde. «Dass Angehörige Bescheid wissen, aber
nicht eingreifen, erzeugt ein unheimlich großes Leid. Dazu blieben
viele Täter Teil der Familie», ergänzte Andresen. Häufig habe dar
über
hinaus Hilfe von Schule oder Jugendämtern gefehlt. Denn Familie wird
als Privatraum angesehen.

Rörig sieht sexuellen Missbrauch nicht allein als Problem der
Vergangenheit. Die Gefahren seien auch heute noch groß, wenn ein
starkes Macht- und Abhängigkeitsverhältnis in einer Familie
vorherrsche, sagte er. «Eine Rolle spielt auch, dass viele Mütter
emotional und auch finanziell von Partnern abhängen, die den
Missbrauch begehen. Und dass Mütter nicht wissen, wohin sie sich
wenden können.» In Zukunft müsse es mehr Lösungsangebote für sie

geben. «Damit eine Mutter einen Konflikt immer mit Blick auf das
Kindeswohl löst - und nicht die Gefahr des Auseinanderbrechens der
Familie als größer einschätzt.»

Für Matthias Katsch, Mitglied im Betroffenenrat der Kommission,
offenbaren die Anhörungen ein kollektives Versagen beim Schutz von
Kindern und Jugendlichen. «Sexueller Missbrauch ist kein exotisches
Schmuddelthema, sondern eine Grundkonstante von Kindheit und Jugend
in Deutschland», sagte er. Katsch schätzt, dass heute ein bis zwei
Kinder einer Schulklasse Opfer von sexuellen Übergriffen sind. «Die
Gesellschaft ist bei diesem Thema blind. Und es gilt, dieses
Schweigen dauerhaft zu durchbrechen.»

Die seelischen Folgen des Missbrauchs durchziehen nach dem neuen
Bericht die Lebenswege - über fehlende Schulabschlüsse, abgebrochene
Ausbildungen, neuen Missbrauch - bis hin zu Suizidversuchen. Ein
Fünftel der bisher Gehörten sei durch gebrochene Erwerbsbiografien
von Armut bedroht.

Bisher reichen die finanziellen Mittel der Kommission - 2017 sind es
rund zwei Millionen Euro - für 1000 Anhörungen. Melden sich weitere
Betroffene, kann ihnen nach dem heutigen Stand nicht zugehört werden.
Kommissionsmitglied Jens Brachmann fordert deshalb ein vom Bund
finanziertes Forschungsinstitut zur Aufarbeitung sexuellen
Missbrauchs. Die bisher durch die Kommission offengelegten Muster
sollen bereits jetzt dazu beitragen, Prävention zu verbessern. Ferner
fordert die Kommission von der Politik die lange angekündigte Reform
des Opferentschädigungsgesetzes.

Denn bisher sind Erwachsene, die in ihrer Kindheit und Jugend von
sexueller Gewalt betroffen waren, auf ergänzende Hilfe wie Fonds
angewiesen. Daraus werden zum Beispiel Therapien finanziert, die
Krankenkassen nicht zahlen. Beim Thema sexueller Gewalt in Familien
weigern sich jedoch 13 der 16 Bundesländer, in den Fonds dafür
einzuzahlen. Bisher trägt deshalb der Bund die Hauptfinanzierung.