Der Fachkräftemangel - Mythos oder reale Gefahr für die Wirtschaft? Von Christine Schultze, dpa

Ob Handwerk, IT-Branche oder Transportgewerbe - ganze
Wirtschaftszweige klagen seit Jahren über Probleme bei der Suche nach
qualifiziertem Personal. Und bekommen ebenso regelmäßig Contra, vor
allem von Gewerkschaften. Wohin steuert der Arbeitsmarkt?

Nürnberg/München (dpa) - Am Thema Fachkräftemangel scheiden sich seit

Jahren die Geister. Während sich die Wirtschaft über wachsende
Schwierigkeiten bei der Besetzung offener Stellen beklagt und auch
vor den konjunkturellen Folgen warnt, halten Gewerkschafter den
Arbeitgebern teils schlechte Arbeitsbedingungen vor und machen die
Unternehmen selbst für Schwierigkeiten bei der Suche nach
Mitarbeitern verantwortlich. Aber wie groß sind die Probleme
wirklich? Und was können Wirtschaft und Politik tun, um Angebot und
Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt gut auszutarieren? Hier einige gängige
Thesen:

- «Schon jetzt gibt es Fachkräfte-Engpässe.»

Das stimmt zwar für einige Berufsgruppen, ist aber auch regional sehr
unterschiedlich ausgeprägt. Die aktuellste Engpass-Analyse der
Bundesagentur für Arbeit etwa sieht keinen flächendeckenden
Fachkräftemangel - wohl aber Engpässe in einigen technischen Berufen
sowie in Gesundheits- und Pflegeberufen. Mit durchschnittlich 162
Tagen am längsten bleiben demnach Stellen in der Altenpflege
unbesetzt, gefolgt von Jobs im Bereich Heizung, Sanitär, Klimatechnik
und Klempnerei (150 Tage) sowie Softwareentwicklung und IT-Beratung
(143 Tage).

Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) wiederum
kommt in einer Analyse zu dem Ergebnis, dass die Firmen derzeit etwa
die Hälfte aller Stellen in Engpassberufen ausschreiben und somit
Schwierigkeiten bei der Stellenbesetzung vielerorts bereits die Regel
und nicht die Ausnahme seien. Im Süden sei die Lage dabei
angespannter als im Norden, aber auch in Ostdeutschland spitze sich
die Situation teils zu. Auch Enzo Weber vom Nürnberger Institut für
Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) sagt: In einigen ostdeutschen
Boom-Regionen steige der Arbeitskräftebedarf bei gleichzeitig
fehlendem Zuzug entsprechender Fachkräfte.

- «Das Problem wird sich künftig verschärfen und auch aufs
Wirtschaftswachstum drücken.»

Das lässt sich nicht ohne weiteres genau prognostizieren. Vorhersagen
aus der Wirtschaft zur künftigen Fachkräftelücke stoßen deshalb
regelmäßig auf Kritik - auch weil dahinter das Interesse vermutet
wird, möglichst viele junge Leute für technische Berufe zu
rekrutieren und so die Bezahlung zu drücken. Fest steht nur: Zwar
schmälern die Alterung der Gesellschaft und der Trend zum Studium die
Zahl potenzieller Bewerber in bestimmten Berufen. Aber die
Digitalisierung könnte diese Entwicklung abfedern. Noch lässt sich
allerdings nicht genau absehen, in welcher Geschwindigkeit der
zunehmende Einsatz von Sensorik, Maschinen und Robotern menschliche
Arbeitskräfte einmal ersetzen wird. Auch wie sich Zuwanderung und die
Aufnahme von Flüchtlingen mittel- bis langfristig auf das
Fachkräftepotenzial auswirken, bleibt abzuwarten.

- «Viele Jugendliche sind nach der Schule nicht ausbildungsfähig.»

Darüber klagen Wirtschaftsvertreter immer wieder. Zu häufig hapere es
nicht nur an ausreichenden Mathematik- und Deutschkenntnissen,
sondern auch an sozialen Kompetenzen, sagte erst kürzlich der
Hauptgeschäftsführer der bayerischen Metall-Arbeitgeberverbände,
Bertram Brossardt. In einer kürzlich veröffentlichten Branchenumfrage
in Bayern hatte fast die Hälfte der Unternehmen, die ihre
Ausbildungsplätze nicht besetzen konnten, eine fehlende Eignung der
Bewerber als Ursache angegeben. Doch Ausbildungs- und
Arbeitsmarktexperten halten dagegen: Angesichts schrumpfender
Bewerberzahlen sollten die Firmen auch sozial benachteiligten
Jugendlichen und jungen Leuten mit schwächeren Schulabschlüssen
Chancen bieten.

- «Der Fachkräftemangel ist auch hausgemacht.»

Vor allem die Gewerkschaften werfen Arbeitgebern in Berufen mit
Nachwuchssorgen vor, zu wenig für die Ausbildungsqualität zu tun.
Überstunden, fehlende Ausbildungspläne oder hoher Druck - solche
Mängel machten manche Berufe für junge Leute eben unattraktiv,
argumentiert etwa der Deutsche Gewerkschaftsbund. In seinem
jährlichen Ausbildungsreport kommen etwa immer wieder
Ausbildungsgänge im Hotel- und Gaststättengewerbe vergleichsweise
schlecht weg. Genau in solchen Berufen gebe es besonders viele
unbesetzte Ausbildungsplätze, sagt DGB-Bundesjugendsekretär Florian
Haggenmiller. Um Abhilfe zu schaffen, haben Wirtschaft und DGB ein
spezielles Beschwerde-Management auf den Weg gebracht.

- «Fachkräfte und Auszubildende sind oft zu wenig mobil.»

Darauf macht etwa die IW-Studie aufmerksam - und empfiehlt den
Arbeitgebern, selbst aktiver und beweglicher zu werden. Neben dem
Blick über den regionalen Tellerrand bei der Suche von Fachkräften
und Azubis könnten die Betriebe den jungen Leuten vor Ort verstärkt
Wohnmöglichkeiten anbieten und auch Arbeitslose zum Umzug bewegen.

- «Die Weiterbildung muss ausgebaut werden.»

Hier besteht dringender Handlungsbedarf, sagt etwa IAB-Experte Weber
- und Staat und Betriebe sollten dabei Hand in Hand arbeiten, auch um
den digitalen Wandel gut zu bewältigen. «Wir brauchen eine
Weiterbildungspolitik.»