Wenn eine Lotsin hilft - Seltenen Erkrankungen auf der Spur Von Dörthe Hein, dpa

Sie irren durch das Gesundheitssystem auf der Suche nach der
richtigen Diagnose und der passenden Behandlung. Menschen mit
seltenen Erkrankungen haben es häufig besonders schwer - aber es gibt
Hilfe.

Magdeburg/Halle (dpa) - An den ersten Krampfanfall seines kleinen
Sohnes Miraç erinnert sich Kazim Artikarslan noch genau. «Er bekam
keine Luft mehr, wurde blau. Es war ein Samstag, 6 Uhr. Es war der
schwerste Tag in meinem Leben», sagt der 37-Jährige. Fast täglich
folgten weitere Krampfanfälle. Schon nach der Geburt war Miraç
unterzuckert. Das kommt häufiger vor bei Neugeborenen und
verschwindet nach kurzer Zeit, nicht aber bei ihm. Denn Miraç hat
eine seltene Erkrankung namens Hyperinsulinismus. Hilfe fand die
türkischstämmige Familie beim Magdeburger Kinderarzt Klaus Mohnike.
Doch die Suche nach der Diagnose und dem richtigen Arzt war
langwierig. Der Tag der seltenen Erkrankungen am kommenden Dienstag
(28. Februar) soll auf die Situation solcher Patienten aufmerksam
machen.

Mohnike leitet das vor drei Jahren gegründete Mitteldeutsche
Kompetenznetz Seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Magdeburg.
Er ist Experte für Hyperinsulinismus mit seinen verschiedenen Formen
und hilft weiteren Patienten mit anderen seltenen Erkrankungen. «Wenn
wir in Deutschland von 8000 seltenen Krankheiten sprechen, dann gibt
es auch immer irgendwo an einem Ort einen Experten», sagt der
64-jährige Mediziner. Als selten gilt eine Erkrankung, wenn weniger
als 5 von 10 000 Menschen von ihr betroffen sind. Die Patienten und
die Experten zusammenzubringen, sei Aufgabe des Kompetenznetzes.

An entscheidender Position sitzt Katharina Schubert. Die 31-jährige
Ärztin ist Lotsin des Kompetenznetzes. An sie wenden sich Patienten,
bei denen Haus- und Fachärzte nicht weiterkommen. «Viele Patienten
kommen mit chronischen Beschwerden», sagt Schubert. Die Bandbreite
sei aber sehr groß. «Neulich hat sich ein Patient vorgestellt, der
über Wochen einen Schluckauf hatte.»

Wer hat eine seltene Erkrankung und wer nicht? Expertin Schubert kann
das meist nach dem ersten Blick auf die eingereichten Unterlagen
sagen. «Oft ist schnell klar, dass es sich um einen langjährigen
Diabetes handelt oder eine schlecht eingestellte
Schilddrüsenunterfunktion.» Bei Fällen, die nicht so klar sind,
werden weitere Untersuchungen empfohlen. Wenn die Meinung von vielen
Spezialisten nötig ist, gibt es eine Konferenz: Einmal im Monat
treffen sich mehrere Mediziner, um vier bis sechs Fälle konkret zu
besprechen.

Mohnike blickt den zweieinhalbjährigen Miraç an, der auf dem Schoß
seines Vaters nach einem dudelnden Handy schaut. Er darf nach einigen
Tagen mit Untersuchungen zurück mit seiner Familie nach Bremen. «Die
Ursache ist noch immer nicht klar», sagt der Mediziner über Miraçs
Hyperinsulinismus. Viele Betroffene wiesen eine Genmutation auf -
eine solche sei im Fall des kleinen Jungen aber nicht gefunden
worden. Den Eltern erleichterte das die Entscheidung für ein zweites
Kind. Es schlummert gerade im Kinderwagen. «Es hat die Krankheit
nicht», sagt die Mutter sichtlich erleichtert.

Vom Hyperinsulinismus ist eines von 50 000 Neugeborenen betroffen,
sagt Kinderarzt Mohnike. Er behandelt etwa 200 Patienten und ist
vernetzt mit weiteren Experten etwa in der Universitätsmedizin
Greifswald. Am Ende können oft Medikamente oder Operationen helfen.
Bei Miraç hat Mohnike die Medikamente besser eingestellt. «Wir haben
eine Dosis gefunden, die gut zu wirken scheint. Aber man muss am Ball
bleiben.»

Am Ende haben die wenigsten Patienten, die das Kompetenznetz
kontaktieren, tatsächlich eine seltene Erkrankung. Kollegen in
Hannover, die eine ähnliche Anlaufstelle betreiben, haben laut
Schubert eine Quote von 10 bis 15 Prozent errechnet. Der Einschätzung
schließen sie und Mohnike sich an. Insgesamt steigt die Zahl der
Anfragen an das Kompetenznetz. Etwa 300 waren es 2014, ein Jahr
darauf schon fast 500.

Für dieses Jahr erwartet Schubert eine weitere Steigerung. An sie
wenden sich zunehmend Hausärzte, die bei Patienten nicht weiterkommen
- sie vermittelt dann Experten. Schubert selbst behandelt und
untersucht die Patienten nicht und verweist in akuten Fällen immer an
die behandelnden Ärzte.

Manchmal helfen auch Zeit und Zuhören schon. Besonders bei
chronischen Beschwerden ist es für Schubert wichtig, dem Patienten
mit seinen Ängsten und Sorgen zuzuhören. Die Zeit dazu hat sie als
Lotsin, weil sie nicht zum täglichen Klinikbetrieb gehört. «Unser
Ziel ist, jedem zu helfen», sagt sie.