Die Agenda 2010 - was hat sie gebracht? Von Basil Wegener, dpa

SPD-Kanzlerkandidat Schulz rückt von der Agenda 2010 ab - und erntet
auch viel Kritik. Was hat die Sozialreform von Gerhard Schröder
gebracht? Was läuft seither schief?

Berlin (dpa) - Die Absage von SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz
(SPD) an die Agenda 2010 in ihrer heutigen Form bringt die
Arbeitgeber und die Union auf die Palme. Sie warnen vor negativen
Folgen für den Arbeitsmarkt und werfen Schulz falsche Zahlen vor. Ein
Überblick:

Was hat Gerhard Schröder (SPD) zur Agenda 2010 bewogen?

Der damalige Kanzler war auch in seiner eigenen Partei in die Enge
getrieben. Deutschland galt als «kranker Mann Europas», der
«Reformstau» schien unauflöslich, der Arbeitsmarkt erstarrt. Schröd
er
versuchte den politischen Befreiungsschlag - und brachte 2003 mit
einer Regierungserklärung die Hartz-Reformen auf den Weg. Im Oktober
2004 war jeder zehnte Erwerbsfähige (10,1 Prozent) ohne Job, 4,4
Millionen Menschen, 2005 gab es den Negativrekord von über fünf
Millionen. Nun sollten die Sozialsysteme saniert, die Lohnnebenkosten
gesenkt, Zu- und Abgang zum und vom Arbeitsmarkt erleichtert werden.

Was waren die zentralen Elemente der Agenda 2010?

Arbeitslosengeld floss fortan nicht mehr so lang. Langzeitarbeitslose
erhielten nur noch Leistungen auf Sozialhilfeniveau. Arbeitslosen-
und Sozialhilfe wurden zum neuen Arbeitslosengeld II (Hartz IV)
zusammengelegt. Staatliche Arbeitslosenvermittlung und kommunale
Sozialhilfe wurden in den Jobcentern zusammengelegt. Einschnitte gab
es auch bei der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung.

Hat sich die Beschäftigung positiv entwickelt?

Ja. Mit 2,7 Millionen lag die Zahl der Arbeitslosen im
Jahresdurchschnitt 2016 auf dem niedrigsten Stand seit einem
Vierteljahrhundert - allerdings auch wegen moderaten Lohnabschlüssen
und der guten Konjunktur, wie das Institut für Arbeitsmarkt- und
Berufsforschung feststellt. Die Forscher erkennen auch an, dass
Arbeitslose weitaus häufiger als früher schlechter bezahlte Jobs und
Stellen an weiter entfernten Orten akzeptieren und so schneller
angebotene Jobs annehmen. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen sank von
1,76 Millionen 2005 auf zuletzt unter eine Million.

Was sind die Kehrseiten?

Die Härten für Arbeitslose - also der Druck, auch unliebsame Jobs
anzunehmen, um nicht in Hartz IV abzurutschen. Denn Hartz-IV-Bezug
ist für viele ein Armutsrisiko: Ein Alleinstehender bekommt im
Schnitt 409 Euro plus Miete pro Monat. Atypische, teils auch prekäre
Beschäftigung, Minijobs und Leiharbeit haben deutlich zugenommen.
Waren im Jahr vor dem Inkrafttreten der Hartz-IV-Reform rund 7
Millionen Beschäftigte im Niedriglohnsektor, waren es fünf Jahre
später laut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung knapp eine
Million mehr Beschäftigte mit einem Niedrigentgelt unter zwei
Dritteln des mittleren Brutto-Stundenlohns. Nach Beobachtung von
Arbeitsmarktforschern hat sich diese Entwicklung inzwischen wieder
umgekehrt.

Ist Schulz der erste, der die Agenda 2010 reformieren will?

Nein. Schon der damalige SPD-Chef Sigmar Gabriel nannte es 2009 einen
politischen Fehler, wenn man nach 20 Jahren arbeitslos wird und dann
nach nur einem Jahr Arbeitslosengeld I (ALG I) mit Hartz IV soviel
bekommt, wie jemand, der nie gearbeitet hat. Die Bezugsdauer des von
ALG I für Ältere ab 50 wurde bereits vor Jahren wieder verlängert. Es

gibt für sie 15, 18 oder 24 Monate ALG I - je nach Dauer der
Beschäftigung und Alter. Jüngere erhalten nach mindestens 24 Monaten
Beschäftigung 12 Monate ALG I. Die Hinzuverdienstmöglichkeiten wurden
für die Bezieher von Hartz IV nachgebessert.

Was will Schulz?

Der SPD-Kandidat will wohl den ALG-I-Bezug für Ältere verlängern,
auch wenn heute bei weitem nicht alle Älteren die maximale
Bezugsdauer ausschöpfen. So sind rund 303 000 ALG-I-Bezieher über 50
Jahre alt, im Schnitt bekommen sie 191 Tage ALG I. Auch eine
Verringerung von befristeten Arbeitsverhältnissen und mehr
Kündigungsschutz für Beschäftigte zählen zu seinen Zielen.

Was ist die Kritik - und hat Schulz die richtigen Zahlen parat?

Die Wirtschaft fürchtet bei einer Einschränkung von Befristungen,
weniger flexibel auf veränderte Auftragslagen reagieren zu können.
Ein längerer ALG-I-Bezug würde laut den Arbeitgebern zudem eine
zügige Rückkehr in einen Job erschweren. Schulz hat zudem eine
verkehrte Zahl genannt. Er hatte der «Bild»-Zeitung gesagt: «Knapp
40
Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse in der Altersgruppe 25 bis
35 sind befristet.» Laut Statistischem Bundesamt hatten in dieser
Altersgruppe 2015 aber nur 17,9 Prozent der abhängig Beschäftigten
einen befristeten Arbeitsvertrag.