«Die Norm» - ein starker Streifen über Siegen und Scheitern im Sport Von Ralf Jarkowski, dpa

Olympia ist für jeden Sportler ein Traum. Fünf Weltklasse-Athleten,
die nach Rio woll(t)en, geben alles dafür. Ob sie es geschafft haben
oder gescheitert sind, ist längst kein Geheimnis mehr. Doch auch als
Rückblende erzählt der Film «Die Norm» spannende Geschichten.

Hamburg (dpa) - Eine Träne rollt wie in Zeitlupe über sein Gesicht,
im Krankenbett sieht keiner wie ein Held aus. Julia kommt und tröstet
ihren Freund nach der Knie-Operation. Auf Krücken wackelt der
8,71-Meter-Weitspringer später durch Hamburg. Im Juni 2016 wird sein
Sohn geboren, doch dem kleinen Glück folgt eine große Enttäuschung:
Sebastian Bayer verletzt sich bei der allerletzten Trainingseinheit
für Olympia, es ist der 3. Juli 2016. Der Traum von Rio platzt in
einer Zehntelsekunde. Nichts geht mehr. Springen schon gar nicht.

Der frühere Leichtathletik-Star wird bei den Sommerspielen an der
Copacabana kein Hauptdarsteller sein, dafür spielt Bayer eine
tragende Rolle in einem bemerkenswerten Dokumentarfilm: «Die Norm».
Regisseur Guido Weihermüller hat den früheren Weitsprung-
Europameister, den jungen Ruderer Tim Ole Naske, den coolen Schwimmer
Jacob Heidtmann und das flippige Beachvolleyball-Duo Markus
Böckermann/Lars Flüggen über 20 Monate lang begleitet. An 102
Drehtagen entstanden rund 1000 Stunden Filmmaterial.

Der Untertitel stellt die Sinnfrage: «Ist dabei sein wirklich alles?»
Man könnte, ja man muss nach den 109 Minuten mit einem klaren Nein
antworten. Denn gezeigt werden die Wege, nicht das Ziel. Dass am Ende
nicht jeder der Protagonisten Olympia erreicht, wird erst im Abspann
verraten. Und die es schließlich schaffen, die beiden Beach-Boys und
Heidtmann, erleben in Rio herbe Enttäuschungen. Aus allem ist
schließlich ein Stück geworden über das Siegen und Scheitern im
Hochleistungssport.

«Der Film hat keinen Verlierer», sagte Regisseur Weihermüller der
Deutschen Presse-Agentur über das Langzeitprojekt. Und: «Scheitern
ist eine Option.» Der studierte Sportwissenschaftler und Journalist
hat es als Privileg empfunden, die Top-Athleten fast zwei Jahre lang
privat, im Training und bei Wettkämpfen hautnah begleiten zu dürfen.

Bayer und Heidtmann kamen am Montagabend zur Sondervorstellung ins
Hamburger Kult-Kino «Abaton». Gut zwei Drittel der Plätze im Großen

Saal waren besetzt, dabei lief gar kein Blockbuster.

«Die Norm» - Bayer hat sie 2016 nicht geschafft, das Wort fällt auch

nur ein, zwei Mal im ganzen Film. Denn Weihermüller ging es weniger
um eine Zahl oder Vorgabe - eher um die Geschichte(n) dahinter:
Schicksale, Grenzen, Motivationen. Bayer sagt: «Wir sind doch der
Inbegriff der Leistungsgesellschaft! Wenn wir als Sportler nicht mehr
erfolgreich sind, werden wir uninteressant.»

Lagenschwimmer Heidtmann, der im Rio-Vorlauf deutschen Rekord schwamm
und dann disqualifiziert wurde, will nun noch härter für seine zweite
Olympia-Chance trainieren. Wie motiviert man sich für weitere vier
Jahre Kachelzähl-Quälerei - mit ungewissem Ausgang? Der 22-Jährige
lacht: «Wir sind so eine Art Überzeugungstäter.»

Anders als Sportsoldat Bayer, der ohne Bundeswehrsold eh keine großen
Sprünge machen könnte, hat es Heidtmann nicht so sehr mit dem Adler
auf der Brust: «Ich würde auch für Frankreich starten.» Ein Raunen

geht durchs Kino. Und er setzt noch einen drauf: «Ich finde den
Nationalstolz blöd, ich finde auch Grenzen blöd.» Und Normen? Da muss

er durch. «Die Norm ist gnadenlos - und Hundertstel können weh tun»,

meinte Schwimm-Chefbundestrainer Henning Lambertz.

Bayer beißt die Zähne zusammen, Olympia 2020 in Tokio ist zwar kein
Thema mehr, «aber mein großes Ziel ist die Heim-Europameisterschaft
2018 in Berlin», sagte der in Aachen geborene Hamburger. Sein Sport
sei «so eine Art Kick, eine Sucht» für ihn. Dann lebt er seit zwei
Jahren auf Entzug, denn 2015 und 2016 hat Bayer nur einen einzigen
Wettkampf absolviert. Dieses Jahr tastet er sich im Training wieder
heran, im Sommer 2018 will er sein Comeback geben. Ein Satz für die
Autobiografie wäre wie in Stein gemeißelt: «Man darf hinfallen, aber

dann muss man auch wieder aufstehen.» Das übt Bayer gerade.