Der schönste Lohn: Leberknödel-Essen nach Medizin-Experiment Von Ulrike von Leszczynski, dpa

Das Risiko war groß: Zum ersten Mal in Deutschland haben Berliner
Ärzte einem Krebspatienten Schleimhaut aus dem Dünndarm in die
Speiseröhre verpflanzt. Er ist glücklich, dass er zumindest an
einigen Tagen im Monat wieder essen kann.

Berlin (dpa) - Beim Gedanken an Pfälzer Saumagen, Leberknödel und
Schwarzwälder Kirschtorte huscht ein zufriedenes Lächeln über Helmut

Krahls Gesicht. Lange hat der Maschinenbauingenieur aus Landau
(Rheinland-Pfalz) nur von seinen Leibgerichten träumen können -
Diagnose Speiseröhrenkrebs.

Die Tumoroperation glückte, doch die Folgen waren hart: Weil sich in
der Speiseröhre Narbengewebe bildete, konnte Helmut Krahl kaum
schlucken, genussvolles Essen war unmöglich. Am Berliner
Vivantes-Klinikum ist nun ein Experiment geglückt. Ärzte verpflanzten
dem 62-Jährigen ein Stück seiner Dünndarmschleimhaut in die
Speiseröhre. Eine Woche im Monat kann Krahl nun schon wieder normal
essen. Er hofft auf mehr. Der Langzeit-Effekt aber bleibt noch
abzuwarten.

Für Jürgen Hochberger, Chefarzt und Spezialist für den
Magen-Darm-Trakt (Gastroenterologie), ist der Erfolg zwei Monate nach
der Transplantation eine Freude. Zum einen, weil es Helmut Krahl
besser geht, zum anderen, weil es medizinisches Neuland ist. «Zum
ersten Mal haben wir einem Menschen die eigene Dünndarmschleimhaut in
die Speiseröhre verpflanzt», sagt er. «Vorher gab es allein Versuche

mit der Magenschleimhaut.» Doch die sei weder röhrenförmig noch
enthalte sie so viele Stammzellen wie das Pendant aus dem Dünndarm.

Christian Ell vom Sana-Klinikum in Offenbach ist langjähriger Experte
für frühe Karzinome in der Speiseröhre. Er bestätigt, dass es in
Deutschland noch keine Versuche mit Dünndarmschleimhaut in der
Speiseröhre gab. «Das ist eine charmante Idee. Die Medizin lebt von
solch innovativen Ansätzen», sagt der Chefarzt. Dennoch müssten die
Langzeit-Effekte abgewartet werden. «Da stehen für mich noch fünf
Fragezeichen, ob das einen dauerhaften Nutzen für den Patienten hat.»


Helmut Krahl waren die Risiken bewusst, die ein Ärzteteam aus
Gastroenterologen und Chirurgen lange mit ihm diskutiert haben. «Ich
habe mich aber nie als Versuchskaninchen gefühlt», sagt er. Als
Motivation diente die Hoffnung, später wieder einmal schön essen
gehen zu können.

Krahl hat erlebt, wie sich nach der Tumor-OP seine Speiseröhre
verengte und das Essen wieder nach oben drückte. «Wenn das in einem
Restaurant passiert - das ist doch nur noch peinlich», ergänzt er.
Noch viel schlimmer war für ihn die Vorstellung, dass sein Speichel
vielleicht eines Tages von außen über den Hals hätte abgeleitet
werden müssen.

Die Verpflanzung der Dünndarm-Schleimhaut ist aufwendig. Der Darm ist
zwar lang genug. Das Zusammenwachsen der Endstücke und
Wundinfektionen bleiben nach einer Entnahme jedoch unkalkulierbar. Es
ist alles gut gegangen. Aber es war unklar, ob es den Medizinern
gelingen würde, die Schleimhaut aus dem Darm zu lösen und so zu
präparieren, dass die Speiseröhre sie annimmt.

In dieser Zeit hatte Helmut Krahl eine Magensonde. Er schaute
trotzdem seine Lieblings-Kochsendungen im Fernsehen. «Alle haben mich
gefragt, ob ich mich selbst foltern will. Aber das ist eben so eine
Gewohnheit von mir.» Wie die pfälzische Hausmannskost, die er
manchmal mit seiner Frau zubereite.

Seit der Schleimhaut-Verpflanzung trägt er die Sonde nur noch für den
Notfall. Die schönsten Tage des Monats sind die, an denen er normal
essen kann. Doch danach muss er wieder nach Berlin, damit seine
Speiseröhre gedehnt wird. «Dazu nehmen die Ärzte einen Ballon in der

Form einer Bratwurst», erläutert er. Alles unter einer sanften
Narkose. «Ich merke davon nichts.» Der schönste Lohn ist für ihn,
später in ein Restaurant zu gehen. «Neulich waren wir beim Griechen -
einfach herrlich.» Nicht essen zu können, das mache wirklich einsam.

Chefarzt Hochbergs Kalkulation würde aufgehen, wenn die verpflanzte
Schleimhaut sich ausdehnte - und Helmut Krahl nur noch einmal im Jahr
zur Bratwurst-Ballon-Behandlung in die Hauptstadt reisen müsste. Doch
die Träume des Mediziners reichen weiter. «Das könnte auch eine
Methode für kleine Kinder sein, die aus Versehen Chemikalien
getrunken haben», ergänzt er.

Solche Visionen gehen seinem Kollegen Ell dann aber entschieden zu
weit. «Das halte ich für unmöglich», sagt er. Doch auch er hat eine
n
Traum: Irgendwann einmal mit einem kompletten Stück Dünndarm ein
Stück geschädigter Speiseröhre zu ersetzen. Doch das ist
Zukunftsmusik, ohne Experimente in greifbarer Nähe.

Für Ell war allein schon der Wechsel zur endoskopischen Entfernung
früher Tumore aus der Speiseröhre eine kleine Revolution. Noch vor 20
Jahren sei eine große Operation nötig gewesen. «Danach war die
Sterblichkeit höher als bei einer Herztransplantation», berichtet er.
Ein Problem seien aber bis heute bei einigen Patienten die Narben und
die immer wieder nötigen Aufdehnungen der Speiseröhre - wie bei
Helmut Krahl.