EU-Richter geben Linie im Brustimplantate-Skandal vor

Hunderttausende Frauen haben sich gefährliche Brustimplantate
einsetzen lassen. Beim Hersteller ist kein Schmerzensgeld zu holen.
Die Firma ist insolvent. Doch ein EuGH-Urteil könnte ergeben, dass
auch andere Stellen Verantwortung tragen.

Luxemburg (dpa) - Der Skandal kam vor fast sieben Jahren ans Licht -
doch noch immer wissen Tausende Frauen nicht, ob sie je
Schmerzensgeld sehen werden. Sie hatten sich Brustimplantate des
französischen Herstellers Poly Implant Prothèse (PIP) einsetzen
lassen. Was sie nicht ahnten: Die Kissen waren über Jahre mit
billigem Industrie-Silikon gefüllt worden und extrem reißanfällig.
Auch der TÜV Rheinland, der das Qualitätssicherungssystem von PIP
zertifiziert hatte, wusste davon nach eigenen Angaben nichts.

Allein in Deutschland bekamen schätzungsweise mehr als 5000 Frauen
die gefährlichen PIP-Implantate eingesetzt. Nun steht ein
wegweisendes Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) bevor.

Welcher Fall steckt hinter dem Verfahren am EuGH?

Eine Frau aus der Vorderpfalz hat den TÜV Rheinland auf 40 000 Euro
Schmerzensgeld verklagt. Ihre PIP-Brustimplantate ließ sie sich 2012
auf ärztlichen Rat entnehmen. Vor Gericht argumentierte sie: Mit
unangekündigten Kontrollen im Betrieb und Prüfungen der Implantate
hätte der TÜV dem Pfusch auf die Schliche kommen können. Vor zwei
Gerichten scheiterte die Frau mit ihrer Klage, nun liegt der Fall
beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Der wiederum hat den EuGH um
Klärung gebeten, wie die relevante europäische Richtlinie auszulegen
ist.

Was genau möchte der Bundesgerichtshof vom EuGH klären lassen?

Der EuGH soll in seinem Urteil am Donnerstag Grundsätzliches klären:
Müssen technische Prüfstellen wie der TÜV Rheinland überhaupt hafte
n,
wenn Firmen unter ihrer Kontrolle gesundheitsgefährdende
Medizinprodukte auf den Markt bringen? Und wenn ja: Was müssen Prüfer
unternehmen, um sicherzustellen, dass die Hersteller die einmal
abgesegneten Qualitätsstandards auch einhalten?

Wie wird das Urteil voraussichtlich ausfallen?

Das bleibt abzuwarten. Eine wichtige EU-Gutachterin hat sich dafür
ausgesprochen, dass Prüfstellen tatsächlich gegenüber Patienten
haften müssen, wenn sie bei der Qualitätssicherung von
Medizinprodukten ihre Kontrollpflichten nicht erfüllen. Gibt es
Hinweise auf mögliche Schlampereien und Gesundheitsgefahren, müssten
die Prüfstellen zudem alles tun, um herauszufinden, ob eine erteilte
Zertifizierung weiter gelten kann. Oft folgt das Gericht solchen
Gutachten, aber nicht immer.

Hat der TÜV Rheinland zu lax kontrolliert?

Es steht fest, dass der TÜV Rheinland jahrelang zu angemeldeten
Kontrollen bei PIP erschienen ist. Das hält die Gutachterin in ihrem
Schlussantrag fest. Überraschend besuchten die Prüfer das Unternehmen
demnach jedoch nicht. Auch die Implantate selbst kontrollierten sie
nicht. Der TÜV betonte in früheren Stellungnahmen, er habe stets
verantwortungsvoll gehandelt und sei Opfer eines groß angelegten
Betrugs geworden. PIP habe verschleiert, dass minderwertiges Silikon
verwendet wurde. Sofort nachdem die zuständige französische Behörde
den Pfusch im März 2010 aufdeckte, habe der TÜV die Zertifikate
ausgesetzt. Die Firma ging kurz darauf pleite.

Wie stehen die Chancen der Klägerin auf Schmerzensgeld?

Eher schlecht. Bislang hatten die meisten Gerichte nichts an der
Prüfroutine des TÜV Rheinland auszusetzen. In Deutschland ist der
Verein nach eigenen Angaben in Dutzenden Verfahren nie schuldig
gesprochen worden. Die EU-Gutachterin schreibt in ihrem
Schlussantrag, dass keine generelle Pflicht bestehe, unangemeldet
Betriebe zu besuchen oder die Medizinprodukte selbst zu prüfen. Folgt
der EuGH dieser Argumentation, sind die Vorwürfe der Frau entkräftet.
Außerdem plädiert die Gutachterin dafür, dass Prüfstellen nicht
rückwirkend haftbar gemacht werden können - es sei denn, sie haben
einen speziellen Versicherungsschutz. Den konkreten Fall und andere
Verfahren hierzulande müssen aber deutsche Gerichte entscheiden und
dabei der Auslegung des EuGH folgen. 

Und was ist mit den anderen Klägerinnen in Deutschland und in
Frankreich?

Der EuGH legt zwar generell für alle EU-Staaten fest, wie
europäisches Recht auszulegen ist. Wie einzelne Schadenersatzklagen
in Deutschland und Frankreich ausgehen, ist aber trotzdem nicht mit
Gewissheit vorherzusehen. In Frankreich wurde der TÜV Rheinland im
Januar zu Schadenersatzzahlungen in Höhe von 60 Millionen Euro
verurteilt. Dort hatten rund 20 000 Frauen eine Sammelklage
eingereicht. Der TÜV legte Berufung ein.

Welche Auswirkungen hätte es für die Branche, wenn künftig Patienten

direkt von den Prüfstellen Schmerzensgeld verlangen können?

Früher konnten Patienten in der Regel Schmerzensgeld nur von Ärzten
oder Medizinproduktherstellern einfordern. Wenn nach dem EuGH-Urteil
künftig auch Prüfstellen haftbar wären, kämen auf diese größere

Risiken zu. Vermutlich müssten sie alte Verträge mit Herstellern
nachjustieren und zum Beispiel mehr Befugnisse bei Kontrollen
fordern. Außerdem müssten TÜV und andere Prüfinstitute wohl neue
Versicherungen für diese Art der Haftung abschließen.