«Wachsam bleiben»: Weniger Masernfälle 2016 - aber noch zu viele Von Gisela Gross, dpa

2015 war in Deutschland das heftigste Masern-Jahr seit Einführung der
Meldepflicht. Hat sich die Lage im vergangenen Jahr gebessert?

Berlin (dpa) - Ein Blick auf die Zahlen allein könnte zuversichtlich
stimmen: Nach fast 2500 Masernfällen bundesweit im Jahr 2015
erkrankten nach bislang vorliegenden Daten des Robert Koch-Instituts
(RKI) im vergangenen Jahr nur etwas mehr als 300 Menschen an der
hochansteckenden Krankheit. Fachleute jedoch sehen beim Thema Masern
in Deutschland wenig Grund zum Aufatmen. Und das nicht nur, weil die
tatsächlichen Zahlen höher liegen: Nicht jeder Patient geht zum Arzt
und auch nicht jede Behandlung wird gemeldet.

«Schlimm, dass Deutschland inzwischen in Europa das Schlusslicht der
Masernelimination darstellt», erklärt RKI-Präsident Lothar Wieler mit

Blick auf die nach neuen Erkenntnissen seines Hauses oft verspätete
Masernimpfung bei Kindern. Nach Hochrechnungen waren bundesweit
150 000 Kinder des Jahrgangs 2013 mit 24 Monaten nicht vollständig
gegen Masern geimpft. Hinzu kamen 28 000 Kinder ganz ohne
Masern-Impfung. Ballungsräume wie Berlin, Dresden, Hamburg, Köln,
Leipzig und München sehen die Experten als «Problemregionen».

Hermann Josef Kahl, Sprecher des Bundesverbandes der Kinder- und
Jugendärzte (BVKJ), würdigt aber einen in den RKI-Zahlen
ersichtlichen Aufwärtstrend bei der zweiten Masern-Impfung: «Wir
haben den Eindruck, dass die Misere, wie sie bisher bestanden hat,
doch langsam ein bisschen abgebaut wird», sagt er. Die Zahl der
Kinder, die nach dem zweiten Lebensjahr nur einmal geimpft sind,
scheine abzunehmen - noch müsse man aber die weitere Entwicklung
abwarten. «Wachsam bleiben sollte man auf jeden Fall», betont Kahl.

Noch immer viel zu viele Masernfälle beklagt Dirk Werber, Leiter der
Arbeitsgruppe Infektionsschutz beim Berliner Landesamt für Gesundheit
und Soziales (Lageso). Erst kürzlich wies er darauf hin, dass es für
eine Eliminierung der Masern gemäß dem Ziel der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) weniger als einen Fall pro eine
Million Einwohner hätte geben dürfen - das wären maximal rund 80 in
Deutschland. So viele Masernpatienten hatte allein Berlin 2016,
weiter Deutschlands Masern-Hauptstadt. Auch vielen jungen Erwachsenen
fehlt dort der Impfschutz.

Die Anfälligkeit zeigte die Ankunft eines erkrankten Reisenden im
Spätsommer: Er verließ sein Hotel nicht, bevor er ins Krankenhaus
kam, wie Dirk Werber schilderte. Dennoch steckten sich zwei
Angestellte des Hotels an und trugen das Virus in der Stadt weiter.
Da es sich um einen seltenen Virenstamm handelte, sei nachweisbar,
dass in der Folge auch Menschen in Brandenburg, Sachsen,
Niedersachsen und Baden-Württemberg an dem eingeschleppten Erreger
erkrankten, so Werber. Neben Berlinern waren auch relativ viele
Thüringer und Brandenburger von Masernerkrankungen betroffen.

Andere Länder sind weiter: Der gesamte amerikanische Kontinent wurde
Ende September als frei von Masern erklärt. Dort wurde seit 2002 nur
noch von eingeschleppten Fällen berichtet. In den USA sind
Masernimpfungen für Kinder vorgeschrieben, sie müssen in Schule und
Kindergarten vorgewiesen werden. Masern gehören zu den ansteckendsten
Krankheiten überhaupt. Man kann sich über Tröpfchen beim Sprechen,

Husten und Niesen anstecken oder bei Kontakt zum Beispiel mit dem
Schleim eines Erkrankten.

Eine Impfpflicht in Deutschland fordert der Ärzteverband BVKJ seit
Jahren. Die Mediziner halten die nach dem großen Masernausbruch 2015
eingeführte verpflichtende Impfberatung nicht für ausreichend. Die
Beratung bekommen Eltern üblicherweise bei der normalen
Vorsorgeuntersuchung, schildert Kahl: «Sie sind relativ gut
vorinformiert und wollen die Impfung in der Regel auch haben.»

Ausführlichere Gespräche gebe es mit Eltern, die generell Angst vorm
Impfen haben. «Da kommt man dann manchmal nicht durch», so Kahl.
Impfgegner dagegen kämen gar nicht erst in Praxen. Zudem hat Kahl die
Erfahrung gemacht, dass Impfungen des Öfteren erst im Jugendalter
nachgeholt werden, wenn Schüler zum Beispiel in die USA gehen wollen.

Masern sind vor allem wegen der sehr schweren Folgeerkrankungen
gefürchtet. Beispielsweise kann es zur chronischen und tödlichen
Masern-Gehirnentzündung SSPE (Subakute sklerosierende
Panenzephalitis) kommen. Sie ist nach neueren Untersuchungen häufiger
als bislang angenommen.