Eine Welt aus sechs Punkten: Braille-Schrift noch immer alternativlos Von Sebastian Kunigkeit, dpa

Lesen mit den Fingern: Die vor fast 200 Jahren erfundene Punktschrift
von Louis Braille macht das möglich. Und ist für viele blinde
Menschen bis heute ein unverzichtbarer Schlüssel zum Wissen der Welt.

Paris (dpa) - In Fahrstühlen sind die kleinen Symbole aus
hervorstehenden Punkten inzwischen häufig zu sehen, auch auf
Medikamentenverpackungen. Für viele blinde Menschen sind sie ein
Schlüssel zum Wissen der Welt: In Zeichen aus bis zu sechs Punkten,
angeordnet wie die Sechs auf einem Würfel, macht die Braille-Schrift
das Alphabet fühlbar. Die Punktschrift wurde vor fast 200 Jahren
erfunden und ist auch im digitalen Zeitalter noch unverzichtbar. Der
Welt-Braille-Tag am kommenden Mittwoch (4. Januar) erinnert an den
Geburtstag ihres Erfinders Louis Braille.

Die Weltblindenunion warnt zu diesem Anlass davor, die
Braille-Schrift mit Blick auf neue Errungenschaften zu
vernachlässigen. In einer Mitteilung äußert der Verband die Sorge,

dass es weniger Unterstützung für Unterricht und Nutzung der
Punktschrift geben könnte «aufgrund des Glaubens, dass Technologien
wie E-Books, Hörbücher und Screen-Reader Braille ersetzen könnten».


Tatsächlich bietet die heutige Medienwelt auch für Blinde viele neue
Möglichkeiten. Hörbücher sind viel breiter verfügbar als früher,

Computer und Smartphones können Texte vorlesen. Doch das kann die
Braille-Schrift aus Sicht von Professor Thomas Kahlisch nicht
ersetzen: «Die ist eigentlich alternativlos», sagt der Leiter der
Deutschen Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig, der auch im
Präsidium des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands sitzt.
«Das ist die einzige Form, mir als blinder Mensch Schrift
anzueignen.»

Natürlich sei es für Blinde sehr praktisch, etwa Diktierfunktionen am
Smartphone nutzen zu können. Doch diese Technik habe auch Grenzen.
«Da rollen sich einem die Fußnägel hoch, was die Leute so
wegschicken», sagt er mit Blick auf Missverständnisse und
Rechtschreibfehler. «Das funktioniert im Berufsleben nicht.»
Lesekompetenz sei ein Eckpfeiler der Bildung - und für Blinde damit
ebenso wichtig wie für Sehende, heißt es bei der Weltblindenunion.

Die Geschichte der Punktschrift begann mit einem Schicksalsschlag.
Louis Braille kam 1809 als Sohn eines Sattlers im Dorf Coupvray
östlich von Paris zur Welt - in der Nähe liegt heute der Freizeitpark

Disneyland. Im Alter von drei Jahren verletzte der Junge sich mit
einem spitzen Werkzeug seines Vaters am rechten Auge. Eine folgende
Infektion ging auch auf das linke Auge über, Louis erblindete.

Die Eltern wollten trotzdem eine möglichst gute Schulbildung für das
aufgeweckte Kind. Sie schickten ihn ganz normal zur Dorfschule, wo
Louis sich als wissbegierig und begabt erwies. Schließlich konnte er
eines der ersten Blindeninstitute der Welt in Paris besuchen.

Dort arbeiteten Blinde damals noch mit einer Reliefschrift: Ins
Papier gedrückte Buchstaben, sehr schwierig und langsam zu lesen. Auf
die Idee einer Punktschrift kam Louis durch einen Artilleriehauptmann
- der hatte eine «Nachtschrift» erfunden, mit der sich Soldaten im
Dunkeln verständigen sollten. Das System war mit zwölf Punkten aber
sehr kompliziert. Braille vereinfachte es und stellte 1825 im Alter
von nur 16 Jahren sein Verfahren mit sechs Punkten vor.

Wie viele Menschen Braille lesen können, dazu gibt es keine
verlässlichen Angaben - schon zur Zahl der Blinden und Sehbehinderten
in Deutschland liegen nur Schätzungen vor. Gerade junge Menschen
könnten in recht kurzer Zeit Braille lernen, sagt Kahlisch. Menschen,
die erst im Alter ihre Sehkraft verlieren, tun sich dagegen oft
schwerer. Wer das System beherrscht, kann damit heute mithilfe einer
sogenannten Braillezeile auch am Computer arbeiten oder das
Smartphone nutzen. Wer als Blinder Braille beherrscht, hat damit
deutlich bessere Chancen auf einen Job.

«Es gibt viele Potenziale», sagt Kahlisch mit Blick auf die
Verbindung von Braille und moderner Technik. So könne man sich vom
Handy navigieren lassen, mit einer Supermarkt-App einkaufen oder mit
einer Bank-App ein Konto führen. «Aber das geht auch mit einer
gewissen Abhängigkeit von den Geräten einher.» Zudem gibt es neue
Schwierigkeiten - etwa, wenn Software-Entwickler nicht wissen, wie
sie eine App gestalten müssen, damit sie auch von Blinden genutzt
werden kann. «Die ganzen Vorzüge der digitalen Welt sind nur dann
nutzbar, wenn sie barrierefrei sind.» Kahlisch wünscht sich noch mehr
Braille im Alltag, etwa auf Pizzaverpackungen. «Da müssen wir viel
tun, auch Überzeugungsarbeit leisten.»

Louis Braille selbst erlebte den internationalen Siegeszug seiner
Schrift übrigens nicht mehr, er starb 1852 im Alter von 43 Jahren an
Tuberkulose. Erst Jahrzehnte später wurde das 6-Punkte-Alphabet 1878
bei einem internationalen Kongress als bestes System anerkannt. 100
Jahre nach seinem Tod ehrte sein Heimatland das Lebenswerk von Louis
Braille und ließ dessen Gebeine ins Pariser Pantheon umbetten - die
Ruhestätte von Frankreichs Nationalhelden.