Islamisten versetzen weltweiter Ausrottung von Polio Rückschlag Von Jürgen Bätz und Christine-Felice Röhrs, dpa

Die Kinderlähmung soll ausgerottet werden. Zu 99 Prozent ist das
vollbracht - aber das letzte Prozent ist besonders schwer.

Abuja/Kabul/Islamabad (dpa) - Die fast vollständige Ausrottung der
Krankheit Polio ist eine der größten Erfolgsgeschichten der Neuzeit.
Vor weniger als 20 Jahren waren weltweit noch 350 000 Kinder daran
erkrankt - 2016 wurden bislang nur 27 Fälle von Kinderlähmung
(Poliomyelitis) gezählt. Nach dem Willen der internationalen
Gemeinschaft sollte es schon ab 2017 keine neuen Fälle mehr geben.
Zuletzt traten nur noch in Afghanistan und Pakistan Neuerkrankungen
auf. Aber kurz vor dem Ziel haben islamistische Terroristen in
Nigeria der Initiative noch einmal einen Rückschlag verpasst.

Afrika galt seit fast zwei Jahren als Polio-frei. Doch in Gebieten im
Nordosten von Nigeria, die bis vor kurzem noch unter der Kontrolle
der Terrormiliz Boko Haram standen, sind seit August vier neue Fälle
diagnostiziert worden. «Es ist eine wichtige Mahnung, dass die
internationale Gemeinschaft es sich nicht erlauben kann, so kurz vor
der Polio-Ausrottung nachlässig zu werden», erklärte Michel Zaffran,

Polio-Direktor bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Seither haben die WHO und ihre örtlichen Partner im betroffenen
nigerianischen Bundesstaat Borno und den angrenzenden Gebieten schon
bis zu zehn Millionen Kinder geimpft. In der nächsten Phase sollen in
Nigeria und den Nachbarstaaten Tschad, Niger und Kamerun bis zu 41
Millionen Kinder geimpft werden. Von den dazu nötigen 116 Millionen
Dollar fehlen den Helfern allerdings noch 33 Millionen.

«So lange auch nur ein Kind infiziert ist, sind Kinder in allen
Ländern der Welt gefährdet, sich mit Polio anzustecken», warnt die
WHO. Wenn das Virus in nur einigen Regionen fortbestehe, könne das
schon innerhalb von zehn Jahren zu 200 000 Neuerkrankungen führen.

Kinderlähmung ist eine hoch ansteckende Virus-Erkrankung. Sie wird
hauptsächlich durch Fäkalien übertragen und bedroht vor allem
Kleinkinder. Eine von 200 Infektionen führt laut WHO zu dauerhaften
Lähmungen. Bis zu 10 Prozent der gelähmten Kinder sterben. Ein
Heilmittel gegen Polio gibt es nicht, nur eine Impfung bietet Schutz.

In Europa ist Polio für die meisten Menschen eine Krankheit aus dem
Geschichtsbuch. Viele wollen ihre Kinder nicht mehr schützen lassen.
«Das ist mehr ein emotionales Thema als ein medizinisches», sagt Sona
Bari, eine Sprecherin der Globalen Initiative zur Ausrottung von
Polio. In Indien etwa, wo Polio erst seit 2011 Geschichte ist, sei
die Lage komplett anders. «Eltern dort haben die Folgen der Krankheit
noch selbst gesehen, sie können sich nicht vorstellen, wie jemand
darauf verzichten könnte, sein Kind dagegen zu schützen», sagt Bari.


Die große Schwierigkeit in Nigeria ist, dass dort Hunderttausende
immer noch in Gebieten leben, die von Boko Haram kontrolliert werden
oder die für Helfer zu gefährlich sind. Unter der Kontrolle der
sunnitischen Fundamentalisten war auch die Gesundheitsversorgung
zusammengebrochen. Rund 4,4 Millionen Menschen sind dort den
Vereinten Nationen zufolge akut von Hunger bedroht, in Teilen der
Region sprechen Helfer gar von einer Hungersnot. «Das Immunsystem der
Kinder in der Region ist so geschwächt, dass sie extrem anfällig
sind», sagt Bari. «Wir müssen die Region mit Impfstoff fluten.»

Auch in Pakistan war die Sicherheitslage lange das größte Hindernis
für die Ausrottung von Polio. Dort ist die Zahl der Neuinfektionen
zuletzt allerdings dramatisch gesunken - von 306 Fällen in 2014 auf
54 in 2015, sagt die Chefin von Pakistans nationaler
Anti-Polio-Initiative, Ayesha Raza Farooq. Das sei die geringste Zahl
seit 2007 gewesen. Bis Mitte Oktober 2016 waren es nur weitere 15.

Islamisten hatten jahrelang vor allem in den nordwestlichen
Stammesgebieten Impfkampagnen angegriffen. Sie glauben, die Impfungen
seien ein Mittel zur Sterilisierung von Muslimen oder ein Vorwand, um
Spione des Westens in ihre Mitte zu bringen. Doch begann das Militär,
gegen Islamisten vorzugehen. Dann hatte Gesundheitspersonal Zugang zu
Orten, in denen nie zuvor ein Kind geimpft worden war.

In Afghanistan geht der Trend in die andere Richtung: Der Krieg mit
den radikalislamischen Taliban weitet sich wieder aus. Das bereitet
den Experten Sorgen. Bisher seien in 2016 acht Polio-Fälle
festgestellt worden, sagt der Leiter der nationalen
Anti-Polio-Initiative, Nadschibullah Safi. Im gesamten vergangenen
Jahr waren es 20. Allerdings sind weite Teile des Landes wegen
Gefechten mit den Taliban von medizinischer Versorgung abgeschnitten.

In der umkämpften Nordprovinz Kundus gab es demnach seit sechs
Monaten keine Impfkampagne mehr. In der Provinz Badachschan meldeten
Spezialisten, dass sie keinen Zugang zu Gebieten in Taliban-Hand
hatten und mehr als 2000 Kinder nicht impfen konnten. In beiden
Provinzen war bis vor einigen Jahren noch die Bundeswehr stationiert.

Die WHO, das UN-Kinderhilfswerk Unicef, die amerikanische
Seuchenkontrollbehörde (CDC) und die Hilfsorganisation Rotary
International haben sich 1988 zusammengeschlossen, um Polio
auszurotten. Zu 99 Prozent ist es vollbracht, aber das letzte Prozent
ist am schwersten. Die Rückkehr von Polio nach Nigeria hat die
internationale Gemeinschaft wachgerüttelt, meint WHO-Direktor
Zaffran. «Vielleicht war dieser Krankheitsausbruch genau das
Alarmsignal, das wir in dieser letzten Phase gebraucht haben.»