Das Leben nach dem Suizid: Zerreißprobe für Angehörige Von Christine Luz, dpa

Der Suizid seiner Frau stürzt Jürgen in eine tiefe Krise. Seit vier
Jahren kämpft er sich aus der Trauer zurück in ein normales Leben.
Dabei helfen ihm und anderen Hinterbliebenen das Trauerangebot eines
Vereins. Aber auch eine zweite Beerdigung.

Stuttgart (dpa) - Die Worte, die das Leben von Jürgen an einem Morgen
im März für immer verändern, wird er nie vergessen. «Ist das Ihre
Frau, die dort unten liegt?» Kurz zuvor hatte ein Nachbar so lange
und laut an seine Tür gehämmert, bis Jürgen aus dem Schlaf geschreckt

war. Die Frage hallt noch in seinem Kopf, als er ihm wie betäubt
folgt. Im Keller findet er seine Frau, um sie herum eine Blutlache.
«Wie ein Fisch auf dem Trockenen, der nach Luft schnappt», schießt es

ihm durch den Kopf. Sie hatte sich aus dem ersten Stock des
Treppenhauses gestürzt. 

Vier Jahre ist ihr Suizid her. Heute sagt Jürgen, der hier seinen
Nachnamen nicht nennen will: «Sie hat die Belastung einfach nicht
mehr ausgehalten.» 17 Jahre waren sie verheiratet. Zuletzt war das
Zusammenleben immer schwieriger geworden. Ein seltener Gendefekt
hatte die Frau nach und nach erblinden lassen, dazu litt sie unter
einer Psychose. Ärztliche Hilfe lehnte sie ab. Zu der Zeit waren
beide schon im Rentenalter. «Bis zum Schluss hatte ich die Hoffnung,
dass sie sich wieder fängt.»

Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS)
nehmen sich bundesweit pro Jahr rund 10 000 Menschen das Leben.
In Baden-Württemberg sind es laut Statistischem Landesamt etwa 1300.
Zurück bleiben Partner, Eltern, Freunde, die mit der Situation meist
überfordert sind. Nach dem Tod seiner Frau verfiel Jürgen in einen
Schockzustand. Seine Familie wusste nicht mehr weiter. Jürgen suchte
Hilfe und fand sie beim Arbeitskreis Leben in Stuttgart. «Das war
mein Ausweg ins Überleben», sagt er. «Ohne die Gespräche dort hät
te
ich diese Phase nicht so gut überstanden.»

Den Verein gibt es seit mehr als 30 Jahren. Die Mitarbeiter kümmern
sich um Suizidgefährdete, aber auch um die Hinterbliebenen.
Einzelgespräche und Trauergruppen sollen dabei helfen, mit der
Situation umzugehen. Außerdem laden sie einmal im Jahr, meist im
Oktober, zu einer Gedenkfeier ein. Ein Angebot, um noch einmal
in Würde Abschied zu nehmen, eine Art zweite Beerdigung, erklärt
Ellen Wittke vom Arbeitskreis.

Kurz nach dem Suizid machen sich Angehörige oft Selbstvorwürfe, viele

Fragen stehen im Raum, es fällt schwer, über das Geschehene zu
sprechen. «Die Beerdigung fand oft unter furchtbaren Umständen
statt», sagt Wittke. «Freunde und Bekannte erwähnen die Toten oft
nicht mehr, wir möchten zeigen, dass sie weiterhin einen Platz
im Leben haben.»

Auch Jürgen ist jedes Jahr dabei, bringt sich bei den Vorbereitungen
ein. Er zieht Kraft aus der Gemeinschaft mit anderen, die dasselbe
erlebt haben wie er. Fester Bestandteil: Hinterbliebene können die
Namen der Verstorbenen notieren, diese werden später laut vorgelesen.
«Ein sehr bewegender Augenblick», sagt Wittke.

Die DGS zählt online bundesweit rund 100 Hilfseinrichtungen wie den
Arbeitskreis Leben auf. Geschäftsführer Michael Witte sagt, dass
diese jedoch höchst unterschiedlich verteilt seien. Vor allem in den
neuen Bundesländern würde es an ausreichenden Angeboten fehlen, in
Thüringen etwa gebe es keine einzige derartige Beratungsstelle.

Frühzeitige Hilfe ist wichtig, betont Elmar Etzersdorfer, Facharzt
für Psychiatrie und stellvertretender Vorsitzender der DGS. Die
Gesellschaft sei inzwischen auch eher für das Thema sensibilisiert -
«in den 80er Jahren lag die Suizidrate etwa doppelt so hoch.» «Viele

Menschen kündigen ihren Suizid direkt oder indirekt an», sagt
Etzersdorfer. «Wenn sich jemand immer mehr zurückzieht, seine Hobbys
aufgibt und sein Leben sinnlos findet, muss man nachhaken, was los
ist.» Die DGS informiert unter www.suizidprophylaxe.de, Beratung
bietet zum Beispiel auch die Telefonseelsorge.

Jürgen hatte seine Frau zuletzt fast rund um die Uhr gepflegt.
Trotzdem wäre ihm nie in den Sinn gekommen, dass sie sich umbringen
will. Nach dem Fund im Keller bekam er Schnappatmung, kämpfte mit der
aufkommenden Panik. «Man darf Angehörige in einer solchen Situation
nicht alleine lassen», sagt Hanns Günther. Der Pfarrer leitet die
Notfallseelsorge in Stuttgart und hält die Predigt bei der
Gedenkfeier. Er ist oft dabei, wenn Menschen vom Suizid eines
Angehörigen erfahren. «Zu signalisieren: Ich habe jetzt Zeit für
dich, ist extrem wichtig.» Günther erlebt, wie unterschiedlich sie
mit dem Verlust umgehen. «Manche schreien oder werden hysterisch,
andere reden ganz viel oder sitzen einfach nur still in der Ecke.»

Auch heute noch überfällt Jürgen immer wieder die Erinnerung an seine

Frau. Er bekommt Panikattacken. Das Bild aus dem Keller geht ihm
nicht aus dem Kopf. Trotzdem sagt er, dass er wieder Freude am Leben
finde: «Ich habe gelernt, das auszuhalten.»