TK-Chef: Krankenkassen mogeln bei der Abrechnung

Gemunkelt wird schon lange darüber. Doch so offen gesagt hat es noch
keiner: Um an mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds zu kommen, lassen
Krankenkassen ihre Patienten kränker erscheinen, als sie sind.

Berlin (dpa) - Gesetzliche Krankenkassen schummeln nach Darstellung
der Techniker Krankenkasse (TK) im großen Stil bei der Abrechnung von
Leistungen. Ihr Vorstandsvorsitzender Jens Baas räumte in einem
Gespräch mit der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» ein: «Es

ist ein Wettbewerb zwischen den Kassen darüber entstanden, wer es
schafft, die Ärzte dazu zu bringen, für die Patienten möglichst viele

Diagnosen zu dokumentieren.» Dann gebe es mehr Geld aus dem
Risikostrukturausgleich.

«Die Kassen bezahlen zum Beispiel Prämien von zehn Euro je Fall für
Ärzte, wenn sie den Patienten auf dem Papier kränker machen.» Es gebe

sogar Verträge mit Ärztevereinigungen, die mehr und schwerwiegendere
Diagnosen zum Ziel hätten. Die Kassen ließen sich zudem in dieser
Richtung von Unternehmensberatern beraten, erläuterte Baas.

Besonders intensiv würden die regionalen Kassen diese Schummelei
betreiben. «Sie bekommen 2016 voraussichtlich eine Milliarde Euro
mehr als sie für die Versorgung ihrer Versicherten benötigen.» Baas
meine dabei offenbar die Kassen der AOK, schreibt die Zeitung. Aber
auch seine Kasse könne sich dem nicht entziehen, räumte der TK-Chef
ein.

Für all das hätten die Kassen seit 2014 eine Milliarde Euro
ausgegeben, die für die Behandlung der Patienten fehle, sagte der
Chef der größten deutschen gesetzlichen Krankenkasse. Ohne die
Manipulationen könnte der Beitragssatz der TK 0,3 Prozentpunkte
niedriger liegen. «Ich möchte, dass das System manipulationsresistent
gemacht wird», sagte Baas zur Begründung, warum er die Schummeleien
seiner und der anderen Kassen öffentlich macht.

Der Risikostrukturausgleich (RSA) weist einer Kasse Geld aus dem
Gesundheitsfonds zu je nach Schwere der Erkrankung der Versicherten.
Er ist vielen Kassen seit längerem ein Dorn im Auge. Einige Ersatz-,
Betriebs- und Innungskrankenkassen hatten sich Anfang März zu einer
RSA-Allianz zusammengeschlossen und eine Finanzreform noch in dieser
Legislaturperiode gefordert. Sie sehen insbesondere die Allgemeinen
Ortskrankenkassen durch das jetzige System im Vorteil.

Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch,
sagte, dieses Schummeln könne auch den Tatbestand des Betrugs
erfüllen. Und wenn dies so wäre, müsse man von organisiertem Betrug
sprechen. «Dann wäre es an der Zeit, den Krankenkassen auf die Finger
zu schauen. Die paritätisch besetzte Selbstkontrolle ist eine Farce.
Seit Jahren sind die Aufsichtsgremien im Dornröschenschlaf. Doch die
Gesundheitsminister von Bund und Länder schauen weg», kritisierte
Brysch.