Hochleistungssport fürs Hirn: Weltmeisterschaft im Kopfrechnen Von Beate Depping, dpa

Wäre Andreas Berger Sprinter, würde er die 100 Meter unter zehn
Sekunden laufen. Der Mathe-Student gehört zu den schnellsten
Kopfrechnern der Welt. In Bielefeld stellt er sich bei der 7. WM im
Kopfrechnen starker Konkurrenz.

Bielefeld (dpa) - 30 349 966 oder 49 705 445 - für viele Menschen ist
schon das Lesen solch großer Zahlen eine Herausforderung. Die
Teilnehmer der Weltmeisterschaft im Kopfrechnen in Bielefeld hingegen
multiplizieren sie miteinander, in Sekundenschnelle, als handele es
sich um das kleine Einmaleins. Dem 14-jährigen Wenzel Grüß aus dem
niedersächsischen Lastrup bei Cloppenburg huscht dabei sogar ein
Lächeln über die Lippen.

Drei Klassenarbeiten musste der Jüngste unter den insgesamt 31
Wettkämpfern aus 17 Ländern der Welt in der vergangenen Woche hinter
sich bringen. Nun ist er froh, sich am Wochenende endlich seinem
liebsten Hobby, dem Kopfrechnen, zu widmen. «Bei der Addition habe
ich elf Aufgaben geschafft. Das war gut», sagt er nach den ersten
Durchgängen.

Addieren musste er jeweils zehn zehnstellige Zahlen in
siebenminütiger Akkordarbeit. Der 14-Jährige ist in der achten Klasse
eines Gymnasiums und amtierender Jugend-Weltmeister im Kopfrechnen.
Doch auch der Konkurrenz im Erwachsenen-Wettbewerb steht er in nichts
nach. Bis zum 72-jährigen Wettkampf-Ältesten aus Frankreich starten
alle Teilnehmer gemeinsam in mehreren Disziplinen: vom
Kalenderrechnen, bei dem der Wochentag eines beliebigen Datums aus
unterschiedlichen Jahrhunderten errechnet werden muss, bis zum
Quadratwurzelziehen aus sechsstelligen Zahlen. Am Ende kann sich
Wenzel Grüß zu den besten Kopfrechnern der Welt zählen: Er sichert
sich den fünften Platz in der Gesamtwertung.

Die Lieblingsdisziplin von Andreas Berger ist das sogenannte
Vielseitigkeitsrechnen. «Man bekommt Überraschungsaufgaben, für die
man schnell eine Lösungsstrategie finden muss», sagt der 21-jährige
Mathe-Student aus Jena. «Da ist genau die Kreativität gefragt, die
ich an der Mathematik am meisten schätze.» In Bielefeld wird er mit
Platz vier der beste Kopfrechner der Deutschen. Besser sind nur Yuki
Kimura aus Japan, der sich den ersten Platz sichert, der Japaner
Tetsuya Ono und die Südkoreanerin Jeonghee Lee.

Doch ob Standard- oder Überraschungsaufgabe, für alle Disziplinen
gilt: Training ist alles. Wenn eine Weltmeisterschaft ansteht, wird
täglich geübt. «Das ist wie bei jedem anderen Hochleistungssportler
auch», erklärt Ralf Laue. Der Informatik-Professor aus Zwickau ist
Hauptschiedsrichter bei der WM, die seit 2004 alle zwei Jahre
stattfindet. Er verweist «Wunderkinder» und «Superhirne» ins Land d
er
Legenden: «Mathematische Fähigkeiten kann man ebenso trainieren wie
seine Muskeln. Hier sind keine Wunderkinder, sondern Talente, die
durch Training viel erreicht haben. Und wie beim Sport gilt auch in
der Mathematik: Ein gewisses Level kann jeder erreichen.»

Das bestätigt auch Michael Kleine von der Universität Bielefeld. Der
Mathematikprofessor unterstützt die WM mit einer Gruppe Studierender
bei der Aufsicht während der Wettkämpfe und der Korrektur der
Lösungsbogen. Er erhofft sich dadurch Hinweise auf die Methoden der
Schnellrechner. «Wir erleben hier beeindruckende Gedächtnisleistungen
und eine enorme Schnelligkeit», sagt er. «Dahinter stecken aber oft
auch ganz normale mathematische Algorithmen und Regeln wie die
Binomischen Formeln, die jeder von uns in der Schule lernt.»

In dem Raum der Jugendherberge Bielefeld, dem Hort der hohen
Kopfrechenkünste an diesem Wochenende, sitzt jeweils ein Denksportler
an einem der exakt ausgerichteten Tische. Vom T-Shirt-Träger in Jeans
und Turnschuhen bis zum gesetzteren Semester in Anzughose und Jackett
eint alle das hohe Maß an Konzentration, das sie auf das «Go» von
Laue hin punktgenau abliefern.

Dabei lassen einige dann die Kugelschreiber geradezu über das Papier
fliegen, andere umkreisen die Zahlen mit dem Stift. Ein Japaner wiegt
sich im Takt seiner Rechenschritte vor und zurück, so dass das
weltmeisterliche Kopfrechnen fast tänzerisch wirkt. Dass die
Rechenkünstler auch über eine gehörige Portion Humor verfügen, zeig
t
der Zweitplatzierte Tetsuya Ono: Er hat sich die japanische Flagge
auf die Wangen gemalt, trägt ein weißes Stirnband mit dem roten
Sonnensymbol und zieht zu Beginn des Wettkampfs mit einer kleinen
Fangemeinde ein, die mit riesigen bunten Schlapphüten farbenfrohe
Akzente setzt.