Traue den Erinnerungen nicht: 3sat zeigt «Das getäuschte Gedächtnis » Von Gioia Forster, dpa

Das Gedächtnis ist wie ein Film, den man zurückspulen und anhalten
kann. Diese Vorstellung hält sich hartnäckig. Doch Wissenschaftler
zeigen seit geraumer Zeit, wie falsch Erinnerungen sein können.

Berlin (dpa) - Ein Augenzeuge sagt vor Gericht aus. Bevor es
DNA-Tests gab, war eine Zeugenaussage oft das wichtigste
Beweismittel. Vielleicht das einzige. Auch heute hat eine
Zeugenaussage viel Gewicht. An der Erinnerung eines Menschen hängt
die Entscheidung über Schuld oder Unschuld eines anderen ab. Doch wie
verlässlich ist das Gedächtnis? Wie sehr kann es durch
Polizeibefragungen, Fotos und Medienberichten beeinflusst werden?
Psychologen und Kriminologen zeigen in der Dokumentation «Das
getäuschte Gedächtnis» auf 3sat an diesem Donnerstag (20.15 Uhr), wie

formbar Erinnerungen sind. Mit oft verheerenden Folgen etwa in der
Justiz.

Der Lockerbie-Anschlag 1988. Auf einem Flug von London nach New York,
direkt über der schottischen Kleinstadt Lockerbie, explodiert in der
Maschine eine Bombe. Alle 259 Insassen kommen ums Leben, 11 weitere
Menschen am Boden sterben. Für das Attentat wird Jahre später ein
libyscher Geheimdienstoffizier verurteilt. Die Psychologin Elizabeth
Loftus aber erklärt in der 3sat-Doku: Womöglich wurde ein
Unschuldiger hinter Gitter gebracht.

«Die Erinnerung hinterlässt keinen Abdruck im Gehirn, den man
jederzeit wieder abrufen kann - tatsächlich ist das Gedächtnis
formbar», sagt Loftus. Die Anklage basierte primär auf den Angaben
eines Augenzeugen, der über Jahre hinweg von der Polizei befragt
wurde und Fotos von Verdächtigen sah. Schließlich identifizierte er
den später Verurteilten. Doch Psychologen und Kriminologen erklären
dem Zuschauer, dass der Augenzeuge den Verdächtigen bei einer
Gegenüberstellung womöglich nur anhand der zuvor gesehenen Fotos
wiedererkannte - und diese mit den ursprünglichen Erinnerungen
verknüpfte.

Falsche Zeugenaussagen haben der Organisation Innocence Project
zufolge zu 242 der 343 Fehlurteile in den USA beigetragen, die
bislang durch DNA-Tests aufgehoben wurden. Wie leicht eine falsche
Erinnerung entsteht, beweisen die Macher der Dokumentation anhand
einer simplen Gesichtserkennungsübung. Der Zuschauer wird dabei zur
Testperson. Die Übung zeigt: Eine Erinnerung zu fälschen, ist
erschreckend leicht.

Die Filmemacher zeigen auch, wie durch wohlgemeinte Beratungen und
Therapien seit den 1990er Jahren bei Menschen, die subjektiv
überzeugt sind, Opfer von Kindesmisshandlungen zu sein, falsche
Erinnerungen entstanden sind. Diese können einer Person quasi
suggeriert werden - denn das Gehirn füllt Lücken, die im Gedächtnis
existieren, mit plausibel erscheinenden Erinnerungsstücken.

Falsche Erinnerungen können nicht nur die Taten anderer betreffen,
wie die Kriminologin Julia Shaw zeigt. In einer Studie konnte sie in
mehreren Befragungen Testpersonen Kindheits- oder Jugenderinnerungen
an Straftaten einreden. Bei über 70 Prozent der Personen war sie
erfolgreich.

Mit faszinierenden Beispielen, Experteneinschätzungen und
Zuschauertests verdeutlicht die Dokumentation eine spannende und
zugleich erschreckende Realität: Das Gehirn speichert keine
Filmaufnahmen, die man beliebig abspielen und zurückspulen kann. Eine
Erinnerung hat im Zweifelsfall wenig mit den wahren Ereignissen zu
tun - und viel mehr damit, was danach passiert.

Doch wovon viele Psychologen und Kriminologen längst überzeugt sind,
ist im Justizsystem, bei der Polizei und im Alltag noch neu.
Zeugenaussagen anzuzweifeln ist unbeliebt, einige Experten werden als
«Täterschützer» kritisiert. Die Befragungstechniken von Ermittlern

und die Arbeit von Therapeuten auf die neuen Erkenntnisse
einzustellen, ist ein langwieriger Prozess. Doch das Zweifeln am
Gedächtnis kann für Justiz und Gesellschaft einen positiven Effekt
haben, ist Psychologin Elizabeth Loftus überzeugt: weniger Uschuldige
aufgrund falscher Erinnerungen zu verurteilen.