Bürokratieabbau bis zur Anarchie? Was Normenkontrolle leisten kann Von Kristina Dunz, dpa

Vor zehn Jahren nahm der Nationale Normenkontrollrat eine mühsame
Arbeit auf: Gesetze auf ihren Sinn überprüfen. Es geht um
millionenfachen Zeitgewinn und Milliarden-Einsparungen. Die Kanzlerin
will aber mehr.

Berlin (dpa) - Sie waren «stolz wie Bolle» auf diese Erleichterung
für die Bürger, nur bemerkt hat sie kaum einer. Helge Braun,
Staatsminister von Angela Merkel, sitzt in seinem Büro im Kanzleramt
und erzählt von Errungenschaften des Nationalen Normenkontrollrates
(NKR), der am Mittwoch im Kanzleramt zehnjähriges Bestehen feiert.

Schon der Name dieses von der großen Koalition 2006 gegründeten
Gremiums zur Überprüfung von Sinn und Unsinn in Gesetzen,
Verordnungen und Regeln ist nicht so sexy, um es einmal frei nach
Berlins früherem Bürgermeister Klaus Wowereit zu formulieren.
Normenkontrolle, was ist das überhaupt? Um es vorwegzunehmen: Es ist
ein mühe- und sinnvoller und ziemlich undankbarer Bürokratie-TÜV.

Ein Beispiel: Für den Zusatzbeitrag für Krankenversicherungen mussten
die Versicherten früher ein Formular ausfüllen. Ein Aufwand von etwa
20 Minuten pro Jahr. Etwas nervig, zumal die Arbeitgeber die
Informationen genausogut gleich hätten mitliefern können. So wurde es
nach einer Intervention des NKR dann auch gemacht. Jubel? Nein. Denn:
«Bürokratie vermisst keiner», sagt Braun.

Der CDU-Mann gehört nicht dem NKR an, ist im Kanzleramt aber für
diesen zuständig. Er trägt auch den Titel «Koordinator für
Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung». Bessere Rechtsetzung. Auch
so ein Begriff, den wohl keiner vermissen würde. Im Experten-Deutsch
wird Rechtsetzung so definiert: Die Schaffung von rechtlichen Normen
und allgemeinverbindlichen Anordnungen, die eine unbestimmte Vielzahl
von Fällen regeln, insbesondere im Wege der Gesetzgebung. Bessere
Rechtsetzung ist also der Abbau davon. Alles klar?

Leichter verständlich ist vielleicht diese Beschreibung: Als der
zehnköpfige NKR 2006 seine - unabhängige - Arbeit aufnahm, wurden die
Kosten, die den Unternehmen in Deutschland durch Bürokratiepflichten
jährlich entstanden, auf rund 49 Milliarden Euro beziffert. Bis 2013
sank diese Summe um ein Viertel, weil überflüssige Regeln einfach
abgeschafft und Schreibkram dadurch reduziert wurde. 2014 wurde der
Verwaltungsaufwand für die Bürger um acht Millionen Stunden reduziert
- über den Daumen fielen umgerechnet also rund zehn Stunden weniger
Bürokratie pro Einwohner an. 2015 konnte der NKR erstmals seit Jahren
einen Rückgang der Folgekosten von Gesetzen vermelden: um 685
Millionen Euro. Bis heute prüfte der NKR in etwa 2500 Regelwerke.

Dabei wurde etwa zur Entlastung kleinerer Betriebe die Pflicht zur
Konjunkturprognose für Firmen mit bis zu 50 Mitarbeitern gestrichen.
Besonders schwierig wird es, wenn einzelne Branchen Ausnahmen von der
der Regel für sich beanspruchen. Etwa von der Auflage, im Internet
gekaufte, aber irgendwie nicht passende Ware binnen zwei Wochen
zurücknehmen zu müssen. Blumenhändler finden das natürlich für ih
r
Gewerbe schwachsinnig. Denn nach zwei Wochen ist ihre Ware ohnehin im
Eimer. Der Normenkontrollrat hat aber schon qua Amt kein Interesse an
zusätzlichen Regeln. Irgendwo muss man sich wohl auch auf gesunden
Menschenverstand verlassen können.

Bei der Jubiläumsfeier am Mittwoch wird der Vorsitzende und frühere
Bahn-Chef Johannes Ludewig der Bundeskanzlerin auch den Jahresbericht
2016 übergeben. Ludewig hat einmal gesagt: «Wir sorgen dafür, dass
Gesetze sozusagen mit einem allseits sichtbaren Preisschild versehen
werden.» Der Generalsekretär des Zentralverbandes des Deutschen
Handwerks, Holger Schwannecke, ist bei der Feier für den Rückblick
zuständig. Er lobt die Arbeit des Gremiums als erfolgreich, gut und
wichtig. Er mahnt aber, der NKR brauche mehr Personal. Schon jetzt
mangele es an Intensität und Qualität der Überprüfung.

Merkel ließ in ihrer jüngsten Videobotschaft schon einmal wissen,
auch sie sehe bei allen bereits gemachten Fortschritten durch den NKR
«noch viel Handlungsbedarf beim Bürokratieabbau». Die Digitalisierung

sei dabei eine Chance, aber da stehe Deutschland erst am Anfang.
Einiges - wie die vorausgefüllte elektronische Steuererklärung - sei
auf den Weg gebracht. Aber das Ziel müsse ein Bürgerportal sein,
durch das Behördengänge bei Bund, Ländern und Gemeinden vermieden
werden können. Normenkontrollrat und Regierung stellten sich jetzt
verstärkt zwei Fragen: Wie stellt sich das alles aus der Perspektive
des Bürgers dar? Was muten wir eigentlich denen zu, für die wir
Gesetze machen?

Bei der Gründung des NKR 2006 hatte der Parlamentarische
SPD-Geschäftsführer Olaf Scholz vor überzogenen Erwartungen gewarnt:

«Es wird nicht die Illusion erweckt, am Ende gibt es keine Bürokratie
mehr in Deutschland.» Braun sagt heute: «Irgendwann hätte man sonst
auch Anarchie.» Diese Gefahr ist in Deutschland aber wohl nicht zu
befürchten.