Im fremden Dorf Zuhause: neue Heimat für Demenzkranke in Thailand Von Christiane Oelrich, dpa

Demenzkranke im Ausland betreuen lassen - geht das? Manche nennen das
abfällig «Export von Pflegebedürftigen». Im Dorf Faham in Thailan
d
sieht das anders aus. Aber die Alzheimer-Gesellschaft ist skeptisch.

Chiang Mai (dpa) - «In guten wie in schlechten Zeiten»: Nach mehr als
40 Jahren Ehe stand es für die Schweizerin Christine Sugasi (66)
außer Frage, dass sie sich selbst um ihren Mann kümmern würde, als
der eine Alzheimer-Diagnose erhielt. «Ich bin früher in Rente
gegangen, und anfangs ging es, aber nicht lange», berichtet die Frau
aus Lausanne.

Ihr Mann hatte extreme Stimmungsschwankungen, wurde unberechenbar.
Sie schaute sich Heime an. «Aber es war für mich undenkbar, dass er
weggeschlossen wird». Ihr Mann, der die Natur so liebte. Seit
Dezember 2014 lebt er im Dörfchen Faham 20 Kilometer nördlich von
Chiang Mai in Nordthailand und ist die meiste Zeit des Tages an der
frischen Luft. «Er sieht glücklich aus», sagt Sugasi.

Ihr Mann (77) ist Gast bei Martin Woodtli. Der Sozialarbeiter aus der
Schweiz hat mit Kamlangchay eine Einrichtung für gut ein Dutzend
Langzeitgäste in verschiedenen Demenzstadien geschaffen, die er mit
mehr als 40 Mitarbeitern betreut. Er startete vor zwölf Jahren,
nachdem er mit seiner eigenen demenzkranken Mutter nach Thailand
ausgewandert war. Er kannte das Land von einem früheren
Arbeitsaufenthalt und fand die Betreuung für seine Mutter sehr gut.

Jeder Alzheimer-Patient hat drei persönliche Betreuerinnen und damit
rund um die Uhr jemanden an seiner Seite. In Thailand ist das
bezahlbar. Die Frauen - und ein paar Männer - haben eine mehrmonatige
Ausbildung als Pflegehelfer, aber vor allem viel Geduld.
Spazierengehen, Schwimmen, Ballspielen, in den Arm nehmen - sie
machen, was dem Gast gefällt.

Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft betrachtet Betreuungsmodelle im
Ausland mit gemischten Gefühlen, sagt Mitarbeiterin Susanna Saxl. Je
nach Stadium der Demenz könne es in Einzelfällen funktionieren. Aber
für viele Menschen dürften die fremde Umgebung, die Sprache und das
Fehlen der Familie problematisch sein. «Die Angehörigen sind ein so
wichtiger Faktor für Demenzkranke», sagt sie. «Auch, wenn sie nicht
mehr sprechen, sie haben ein gutes Gespür dafür, wie ihnen Menschen
gegenübertreten, wie viel Nähe da ist.»

Weil Sugasis Mann meist vornübergebeugt sitzt und nach unten blickt,
zieht seine Betreuerin Bennie ein winziges Stühlchen heran und setzt
sich, um möglichst in seinem Blickfeld zu sein. Sie spricht englisch,
wie Christines Mann. «Sehr nett, Sie kennenzulernen», sagt er zu ihr.
«Er kann auch sehr aufgebracht sein, dann sieht er sich auf seiner
alten Arbeitsstelle und will nicht gestört werden», sagt Bennie (39).
«Wir lassen ihn dann, nach ein paar Minuten ist wieder alles gut.»

Fast 47 Millionen Menschen weltweit leben mit Demenz, schreibt der
Dachverband der Alzheimer-Gesellschaften im Welt-Alzheimer-Bericht
2015. Mit wachsender Lebenserwartung steigen die Zahlen rasant: In 20
Jahren seien es wohl fast doppelt so viele. Das Thema betrifft immer
mehr Menschen. Am 21. September ist Welt-Alzheimer-Tag, dann wird in
vielen Städten unter dem Motto «Jung und Alt bewegt Demenz» über di
e
Erkrankung informiert. Auch über Betreuungsmöglichkeiten für Kranke.


Marco und Pascal Kühnis wussten vor fünf Jahren, dass ihr Vater,
damals gerade 56, nicht mehr lange allein leben können wird. Er hatte
eine Alzheimer-Diagnose bekommen. Sie suchten in der Nähe von Zürich
ein Heim und wollten ihm vorher noch einmal einen Urlaub gönnen. In
Thailand. So kamen sie auf Woodtli. Ihr Vater war drei Wochen dort
und wollte dann gar nicht wieder weg. «Zuhause saß er nur noch rum,
wollte kaum raus, aber hier ist er richtig aufgeblüht», sagt Pascal.

Als sie zurück in der Schweiz waren, entschieden sie: Vater geht nach
Thailand. «Anfangs haben wir noch gesagt: Sollte er körperlich krank
werden, kommt er sofort zurück», sagt Marco. Aber sie sind inzwischen
begeistert von der Pflege in Thailand. «Die Distanz tut natürlich
weh», sagt Marco. «Aber wir kommen einmal im Jahr, und dann sind wir
zwei Wochen hier, das ist intensiver als würden wir den Vater einmal
die Woche kurz in einem Heim in der Schweiz besuchen.»

«Export von Pflegebedürftigen» sagen böse Zungen. Woodtli erlebt ab
er
keine Abschiebementalität. «Die Angehörigen sind höchst engagiert.
»
Viele skypen mit den Gästen und kommen regelmäßig zu Besuch. Sugasi
ist nach Chiang Mai gezogen, um näher bei ihrem Mann zu sein.

Woodtlis Patienten leben jeweils zu zweit in einem kleinen Haus im
Dorf. Jeder hat sein eigenes Zimmer. Familienfotos, Föhn und Creme
liegen auf einem Nachttischchen. Wer kann, läuft mit der Betreuerin
zu den Mahlzeiten - meist Schweizer Küche. Die anderen werden im
Rollstuhl geschoben. Es gibt Massagen, Ausflüge zum Zoo, ins
Restaurant, und täglich frisches Tropenobst am Swimming Pool. Seine
Gäste fühlten sich nicht entwurzelt, ist Woodtli überzeugt. Sie
übertrügen Erinnerungen einfach nach Faham. «Meine Mutter zeigte hier

immer auf ein Haus und sagte, dort sei sie zur Schule gegangen.»

Die Leute bewegen sich frei im Dorf, immer mit der Betreuerin an der
Seite. Woodtli eröffnet demnächst einen kleinen Supermarkt, in dem
sie mit ihren Betreuerinnen Hygieneartikel und anderes selbst
einkaufen können. Der Laden ist offen für das ganze Dorf. Die 2000
Einwohner von Faham haben nichts gegen die Demenzkranken. «Hier
denken alle, es gehört zum Altwerden, dass man vergesslich oder ein
bisschen wunderlich wird», sagt Bennie. Vor Alten habe man stets
Respekt.

Drei Frauen fahren mit ihren Betreuerinnen an diesem Tag zum
Einkaufen in einen großen Supermarkt. Einkaufswagen schieben, Brot in
Augenschein nehmen, sie sind in ihrem Element. «Schön!» sagt
Betreuerin Tay auf deutsch. Ruth strahlt und sagt: «ja, schön!»
Isabella untersucht die Bälle in einem Netz akribisch, sie muss immer
etwas zum Fummeln haben. Sukhaniya lässt sie gewähren. Phim nimmt
Margrit und Ruth an die Hand und die drei schlendern lachend durch
die Gänge. «Eins, zwei hoppla», singt Phim mit den beiden.

«Wir sind wie eine Großfamilie, die Gäste werden getragen vom Dorf
»,
sagt Woodtli. «Viele Demenzkranke sind aggressiv. Wenn sie ruhelos
sind und laufen wollen und man ihren Raum begrenzt, wird's schwierig.
Aber hier kann die Betreuerin mit dem Gast fortgehen. Insgesamt haben
wir kaum Probleme mit Aggressionen, die Leute fühlen sich geborgen.»

Es gibt noch einige andere Einrichtungen für ausländische
Demenzkranke in Thailand. Im Care Resort in Maerim rund 35 Kilometer
nördlich von Chiang Mai bietet der Brite Peter Brown in seiner
Hotelanlage Plätze für Langzeitgäste. 16 leben bei ihm, sagt er. Je
nach Pflegebedarf hat er Bungalows oder Zimmer in der «Memory Unit» -
«Gedächtnis-Einheit», um das Wort Demenz zu vermeiden. Fünf Zimmer

gibt es dort mit einem Wohnzimmer in der Mitte, in dem stets
Betreuerinnen zur Verfügung stehen.

Während Woodtlis Mitarbeiterinnen in Jeans und Hemd oder T-Shirt
arbeiten, tragen die Betreuerinnen bei Brown eine Schwesternuniform
mit Häubchen. In Faham leben die Gäste in einem normalen Dorf, die
fünf Hektar große Brown-Anlage mit riesigem Garten hat etwas von
Sanatorium. Rund 2700 Euro kostet eine Rundum-Betreuung mit
Pflegerinnen im Monat, bei Woodtli ist es ähnlich oder etwas teurer.

In der Nähe von Chiang Mai gibt es die Schweizer Anlage Vivo
Bene. Sie ist ganz nach den Bedürfnissen von Demenzkranken gebaut,
wie Corina Glick sagt. Sie hat 80 Zimmer, und nach ihren Angaben 15
Langzeitgäste. Bei höchster Pflegestufe kostet der Aufenthalt 3400
Euro im Monat. Auf Phuket leben im Baan Tschuai Duu Lää unter
Schweizer Führung zur Zeit 21 Langzeitgäste, für bis zu 3700 Euro im

Monat.

Bei Woodtli haben die Betreuerinnen keine Berührungsängste. In den
Arm nehmen, Schulten massieren und Necken gehört zum Programm. «Für
mich ist er mehr als ein Patient, er ist wie ein Verwandter», sagt
Bennie über Sugasis Mann und streichelt ihm den Arm.