Arzneistudien mit Kindern: «Mein Kind ist kein Versuchskaninchen» Von Joachim Mangler, dpa

Arzneien müssen sicher, die Wirkungen bekannt und abschätzbar sein.
Aber gerade bei Kindern tappen die Mediziner oft im Dunkeln, da keine
Studien vorliegen. Ein Dilemma, denn die meisten Eltern wollen ihre
Kinder nicht für Studien zur Verfügung stellen.

Rostock (dpa) - Es gibt in der Medizin und Pharmakologie einen
wichtigen Leitspruch: «Kinder sind keine kleinen Erwachsene». Damit
wollen die Wissenschaftler ausdrücken, dass es nicht reicht, bei der
medikamentösen Behandlung die bei Erwachsenen bekannten Dosierungen
auf das Kindergewicht herunterzurechnen und «dann mal rein damit».
Aber nur für wenige Medikamente liegen Studienergebnisse für Kinder
vor. Schätzungen zufolge gibt es für 90 Prozent aller Medikamente
keine speziellen Zulassungen für die Kinderheilkunde.

Das große Problem dabei: «Es gibt nur eine unzureichende Bereitschaft
der Eltern, ihre Kinder an Studien teilnehmen zu lassen», sagt der
Chefarzt der Neugeborenen-Abteilung an der Rostocker Südstadtklinik,
Dirk Olbertz. «Die Angst vor Gefährdung des Kindes steht an erster
Stelle», sagt er. Die Eltern wollten ihr Kind auch keinem
Untersuchungsstress aussetzen. «Mein Kind ist doch kein
Versuchskaninchen», sei ein Satz, den er häufig hört. Das Vertrauen
der Eltern in die Versicherung, dass jegliche Gefährdung von
vornherein ausgeschlossen ist, sei gering.

Auch der Verband Forschender Arzneimittelhersteller kennt diese
Probleme und verweist auf die Hürden, die vor Arzneimittelstudien
überwunden werden müssen. Klinische Studien dürften nur ausgeführt

werden, wenn eine Ethikkommission das Konzept geprüft und zugestimmt
hat. «Die Kommission prüft Studien mit Kindern nach noch
anspruchsvolleren Kriterien als bei Erwachsenen», sagt
Verbandssprecher Rolf Hömke. Entscheidend sei, dass die Beteiligten
umfangreich über die Studien informiert werden. Die Teilnehmer und
alle Interessierten müssten wissen, dass die Untersuchungen in einer
Studie sehr viel gründlicher seien als im Routinebetrieb.

Wie schwierig es ist, Eltern zu überzeugen, erleben aktuell die
Südstadtklinik in Rostock und die Universitäts-Kinderklinik dieser
Stadt. Die Mediziner wollen testen, ob ein bestimmtes Bakterium -
Escherichia coli Stamm Nissle - tatsächlich das spätere Risiko für
Infektionskrankheiten mindern kann. Nissle verdränge andere
gefährliche Keime, ein bei Erwachsenen bekanntes Phänomen. «Nun
wollen wir schauen, ob das auch bei Kindern zutrifft», sagt Olbertz.
Auch wenn es sich um eine besonders risikoarme Studie handelt, hätten
sich seit Oktober 2015 nur rund 60 Eltern bereiterklärt, ihre Kinder
daran teilnehmen zu lassen. Aber 500 werden gebraucht. Die Eltern
müssten schon zwei oder drei Monate vor der Geburt angesprochen
werden, dass sie die Möglichkeit haben, sich umfangreich zu
informieren.

Der Vize-Chef der Rostocker Universitäts-Kinderklinik, Jan Däbritz,
ist von der Studie und den möglichen positiven Effekten der
probiotischen Bakterien überzeugt. Gerade bei Neugeborenen und bei
Einjährigen, wenn sie in die Krippe kommen, träten häufig Atem- oder

Harnwegserkrankungen auf, da das Immunsystem noch nicht ausgereift
ist. «Es ist bekannt, dass Kinder, die wegen häufiger Infektionen mit
Antibiotika behandelt wurden, als Erwachsene eine größere
Wahrscheinlichkeit haben, an Darmkrankheiten wie Morbus Crohn und
Colitis ulcerosa zu erkranken.» So werde bereits am Anfang des Lebens
die spätere Gesundheit festgelegt.

«Ich begreife die Teilnahme an Arzneimittelstudien als Dienst an der
Gesellschaft», bekräftigt Olbertz. «Wir alle wollen Sicherheit bei
der medizinischen Versorgung, aber die kommt nicht vom Himmel
geflogen.»

An der wissenschaftlichen Überzeugungsarbeit, auch bei Frauenärzten,
führt nach Meinung der Wissenschaftler kein Weg vorbei. Denn an
Vorwürfen, europäische Pharmafirmen würden Studien in
Dritt-Welt-Länder verlagern, sei nichts dran, sagt Hömke. Diese
Länder würden nur in geringem Umfang einbezogen, und dann auch meist
nur als ein mitwirkendes Land unter vielen. Es sei aber prinzipiell
möglich, ethisch einwandfreie Studien auch in diesen Ländern zu
machen, wenn mit geeignete Ärzten und Kliniken gearbeitet wird.