Die Vermessung des Geschmacks Von Sandra Trauner, dpa

Der Trend geht zum musikalischen Allesfresser, und wer schlechte
Filme mag, ist oft überdurchschnittlich gebildet: Ein
Max-Planck-Institut erforscht, wem was warum gefällt.

Frankfurt/Main (dpa) - Eine Minikamera filmt die Gänsehaut am Arm,
Sensoren an den Fingerkuppen messen den Hautleitwiderstand, eine
Pulsuhr am Handgelenk zeichnet die Herzfrequenz auf. Wenn
Testpersonen am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in
Frankfurt Kunstwerke genießen, ist das nicht nur Genuss. Musikhören,
Filme gucken oder Gedichten lauschen geschieht hier im Dienste der
Wissenschaft. In dem Institut erforschen Forscher verschiedener
Fachbereiche durch Befragen, Beobachten und Vermessen ein Thema, an
dem Freundschaften zerbrechen und Beziehungen scheitern: Geschmack.

Auf den ersten Blick sieht das «ArtLab» des Instituts aus wie ein
normaler Konzertsaal: Theatersessel, Bühne, Schallschutz. Doch der
Raum ist gespickt mit Technik, die die Reaktionen des Publikums
aufzeichnet. Es gibt Kameras für Gestik und Mimik, Mikrofone für
Applaus oder Raunen. Bei Bedarf werden Tablet-Computer verteilt, auf
denen die Zuhörer Fragen beantworten.

Rund 90 Mitarbeiter arbeiten an dem Institut, erst drei der vier
Direktorenposten sind besetzt: eine Musikwissenschaftlerin, ein
Literaturwissenschaftler und ein Neurowissenschaftler sind schon da,
ein experimenteller Psychologe wird noch gesucht. Die Forscher nähern
sich ihrem Thema von verschiedenen Seiten: Wie wirkt ein Text, ein
Musikstück, ein Bild, ein Film auf uns? Ästhetik definieren die
MPI-Mitarbeiter als «die Wissenschaft von der Wahrnehmung und
Bewertung».

Im EEG-Labor tragen die Testpersonen eine Haube mit Elektroden auf
dem Kopf. Die zeichnet die Aktivität von Nervenzellen im Gehirn auf.
Im Raum nebenan verfolgt ein «Eye-Tracker» die Augenbewegungen eines
Studenten, der gerade einen Text liest. Wie lange er auf welches Wort
schaut, ist ein Indiz für Aufmerksamkeit, wie Labor-Leiter Cornelius
Abel erklärt.

Herzschlag, Atemtiefe, das Hochziehen einer Augenbraue oder das
Aufrichten der kleinen Härchen am Arm - messen kann man das sicher,
aber welchen Zusammenhang gibt es zwischen Körperreaktionen und
ästhetischem Empfinden? Dafür kombinieren die Forscher die objektiven
Daten, die der Körper liefert, mit den subjektiven Auskünften der
Teilnehmer.

Was der Literaturwissenschaftler Winfried Menninghaus und die
Musikwissenschaftlerin Melanie Wald-Fuhrmann herausfinden, geht weit
über «Das finde ich schön» oder «Das gefällt mir nicht» hinau
s. «Die
Geisteswissenschaften stellen ästhetische Theorien auf. Wir
überprüfen sie», sagt Wald-Fuhrmann.

In einer - noch nicht publizierten - Studie ging es um die Frage, ob
sich positive und negative Gefühle beim Kunstgenuss aufheben. Genau
das Gegenteil war der Fall: Die Messkurven für die körperlichten
Reaktionen bei negativen und bei positiven Affekten hatten ihre
Höhepunkte fast immer zur gleichen Zeit. Gemessen wurden Gänsehaut
und Stirnrunzeln, während den Testpersonen Gedichte vorgelesen
wurden. Germanist Menninghaus zieht daraus den Schluss, «dass
Traurigkeit einen starken Beitrag zum Lustempfinden leistet».

Zu einem verblüffenden Erkenntnis kam ein Mitarbeiter des Instituts,
als er das Publikum von Trash-Filmen befragte: Wer schaut sich
solchen Mist an, war die Ausgangsfrage. Es waren überdurchschnittlich
gebildete Zuschauer, die sich für ein breites Spektrum an Kunst und
Medien interessieren. Sie langweilen sich bei Mainstream-Filmen und
haben Spaß, Anti-Filme mit ironischer Distanz zu betrachten, die
miese Machart zu analysieren, Zitate und Anspielungen zu entdecken.

Auch andere gängige Thesen werden infrage gestellt: Die Grundlage für
unseren Musikgeschmack werde in der Kindheit gelegt und unser
Musikgeschmack sei schichtabhängig, so die Lehrmeinung. Neue Studien
legen aber nahe, dass der Geschmack heute flexibler ist als früher:
Gerade Gebildete hören alles Mögliche, sind immer öfter «musikalisc
he
Allesfresser», wie Wald-Fuhrmann sagt.

Menninghaus untersucht gerade, was Eleganz ist. Seine These:
«Effizienz spielt eine große Rolle. «E=mc2» ist doch an Eleganz n
icht
zu überbieten.» «Elegant» sei nicht nur ein Begriff, der Konjunktur

habe, sagt Menninghaus. Er sei auch «phänomenal präzise». Im
Gegensatz zu «Schönheit».

Dass im Garten des Instituts ein neonfarbener Riesen-Schriftzug
«SCHÖNHEIT» verspricht, ist ein Versehen. Die Immobilienfirma hatte
die Leuchtskulptur hingestellt, um für das Gebäude zu werben. Als
ausgerechnet ein Institut für Ästhetik einzog, schien das zu passen
wie die Faust aufs Auge. Aber die MPI-Direktoren hadern mit dem
Begriff. «Schönheit franst an allen Ecken und Enden aus.»